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Kulturelle Perspektiven aus Ethik, Gesundheit und KI

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Interview mit Prof. Dr. Ole Döring

Über Prof. Dr. Ole Döring:

Ole Döring ist promovierter Sinologe und habilitierter Philosoph. Er arbeitet seit 30 Jahren an den interdisziplinären Schnittstellen internationaler Zusammenarbeit zwischen China und Europa. Schwerpunkte sind Genomik und Ethik, Technik-Ethik, Kultur-Hermeneutik, Globale Gesundheit, Pädagogik des 21. Jahrhunders und Völkerverständigung.

Ehrenamtlich ist er als Gründungsvorstand unter anderem im Institut für Globale Gesundheit Berlin e.V.  und im Bundesverband Deutsch-Chinesischer Allianz tätig. Neben umfangreichen wissenschaftlichen und populären Publikationen ist er ein gefragter Redner und Kommentator zu aktuellen Entiwcklungen.

Er berät Unternehmen und Politik in Fragen der Chinakompetenz, Ethik und strategischer Entwicklung. Derzeit ist der Privatdozent am KIT. Er lebt in der südchinesischen Changsha als Vollprofessor an der Hunan Shifan Universität. 

Welche Rolle spielen kulturelle Unterschiede in Bezug auf ethische Ansätze und das Verständnis des guten Lebens in Deutschland, China und Neuseeland?

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Kulturelle Unterschiede sind in moralischen Fragen solche, in denen die Normen bildenden Erfahrung einer Gemeinschaft über die Zeiten hinweg eine Gestalt gewonnen haben, die sie sprachlich und symbolisch ausformt. Zugleich unterliegen sie immer aktuellen Klärungs- und Verhandlungsprozessen, um für die Urteilsbildung der jeweiligen Zeit verständlich und verbindend zu sein. Das gute Leben ist traditionell ein Kernbestand dieser Reflektion. Wir befinden uns seit etwa 200 Jahren in einem Prozess der Beschleunigung und Diversifizierung technisch-industrieller Entwicklungen. Trotz massiver Lernerfahrungen mit ethischen Grenzüberschreitungen haben wir noch immer keinen entsprechenden kulturellen Reifeprozess durchlaufen, der es uns erlauben würde, die aktuellen Debatten als „kulturelle“ zu interpretieren. Wir laborieren noch an einer neuen Kultur. Das ist ein Kennzeichen der globalen Moderne, in der ja auch viele Bereiche menschlicher Erfahrung zunehmend internationalisiert werden. Die Menschheit verhält sich noch immer „antiquiert“ (Günther Anders). Die Kriterien für das „gute Leben“ lassen sich leicht benennen. Dazu genügt die Gewährleistung der Menschenrechte für alle und jeden. Die entsprechenden Folgerungen der Politik, Wirtschaft aber auch der Philosophie erscheinen aber heute völlig unklar. Die Unterschiede in der Bewertung und Organisation von Fragen des guten Lebens, insbesondere im Feld der Gesundheit können nur eingeschränkt anhand nationaler Grenzen sortiert werden. Das geht am besten bei Themen der Gesetzgebung und Governance dieser Länder, intern und in deren Zusammenarbeit. Neuseeland orientiert sich an einer liberalen, sozialethisch interpretierten Variante des britischen Liberalismus. Gutes Leben denkt vom Individuum her, erkennt zugleich den Minderheitenschutz an und hat aus der Maori-Tradition spirituelle Tiefe und solidarische Gedanken aufgenommen. China durchläuft die Modernisierung unter enormem Entwicklungsdruck innerhalb weniger Jahrzehnte, für die Europa Jahrhunderte hatte. Das betrifft alles - was das Gute ist, was Leben ist und welche Rolle im guten Leben die Elemente aus der breiten Palette des Werte-Bestandes jeweils spielen. Auch mit neuen Entwürfen wird experimentiert. Einen wichtigen Einfluss gewinnen die sozialdarwinistischen und utilitaristischen Erfolgsrezepte des Westens. Sie provozieren zugleich kulturell motivierte Gegenreaktionen, die am Gedanken der Kultivierung eines guten Lebens auch in der Moderne festhalten. Deutschland wurde ähnlich wie China durch die Erfahrung des Versagens kultureller Orientierung und etablierten Gesundheitswissens durch eine technokratisch verengte Politik zu Covid-19 an den Wert des guten Lebens erinnert. Freiheitsgedanken werden jedoch eher als „Freiheit von (z.B. staatlicher Kontrolle)“ denn als „Freiheit zu (z.B. eigenem Glück)“ interpretiert.

Welche ethischen Überlegungen sind bei der Verteilung von essentiellen medizinischen Ressourcen in Entwicklungsländern zu beachten?

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Bei der Verteilung essentieller medizinischer Ressourcen muss unterschieden werden: welche Ressourcen werden wirklich von den Menschen gebraucht und wie weit trägt der Gedanke des Verteilens im Unterschied zur Ertüchtigung der Gesundheit? Dann geht es um die Art der Ressourcen. Globale Gesundheit ist kein Regionalbegriff, sondern geht von der Gesamteinheit des Systems „Welt“ aus. Das ist ein Gedankending. Die erste Ressource ist deshalb Bildung und Wissen – hier die Fähigkeit, eigene Gesundheitsbedürfnisse zu erkennen und zu erfüllen. Das ist etwas anderes als was herkömmlich unter „Medizin“ verstanden wird. Medizin bedeutet: aus Anlass einzugreifen. Das macht ökonomisch nur Sinn, wenn sie in ein Konzept, Institutionen und Lebensmöglichkeiten eingebettet ist, die Gesundheit fördern. Die Grundlagen verstehen, die uns von selbst gesund halten, ist eine Methodologie, die als Salutogenese bezeichnet wird (Aaron Antonovsky). Das ist der innere Bezugspunkt des Gesundheits-Begriffes der WHO. Der ist nicht nur „holistisch“, sondern ethisch betrachtet vor allem eine Verpflichtung Gesundheit in der vollen Bedeutung des Begriffes zu ermöglichen. Leider sind Bildung und Gesundheit fast überall politisch, administrativ und als gesellschaftliches Thema von einander entkoppelt. Der erste Schritt zur Verteilung gesundheitlicher Ressourcen wäre eine ganzheitliche Gesundheitsbildung, für jeden, besonders in der Familie! Der zweite Schritt wäre ein gerechtes soziales Wirtschaftsmodell, das faire Lebensvoraussetzungen schafft und Handlungskompetenz auch materiell fördert, nicht erst den reparierenden oder rehabilitierenden Eingriff. Der dritte Schritt wäre eine intelligente globale Infrastruktur, die lokale Wertschöpfung stärkt und international verknüpft – als Beispiel könnte für den Pharmabereich Neuseeland dienen, das ich der globalen Monokultur entzogen hat. Alles was gesund hält und macht, kann fiskalisch und symbolisch privilegiert werden. Heute wird Morbidität zum Faktor ökonomischer Wertschöpfung (Paul Unschuld). Der vierte Schritt wäre dann die Organisation einer spezifischen Logistik für den Ausgleich von Nachteilen und für Nothilfe.

Inwiefern sollten traditionelle Heilmethoden und alternative Medizin in das moderne Gesundheitssystem integriert werden, und wie können wir ethische Standards gewährleisten?

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Alle wirksamen Heilmethoden müssen optimal genutzt und gefördert werden. Kulturelles Gesundheitswissen ist regional zu pflegen und global zu heben. Das ist ein ethisch einwandfreies moralisches Gebot. Die einseitige Reduzierung der Metrik von Qualität auf industrietechnologisch skalierbare Methoden und Maßstäbe ist ein Vorurteil (bias), das zwar wirkmächtige kalkulatorische Aussagen generiert, aber sozial anschlussfähig bleiben und integriert werden muss. Hier sind Wissenschaftler gefragt, die Einheit der Medizin als eine Sozial- und Geisteswissenschaft mit Praxiskompetenz wieder herzustellen, die den initialen Erfolg des biologischen Medizinverständnisses im 19. Jahrhundert begründet hat (Rudolf Virchow). Besonders die Organisation der Bereichsmedizinen muss revidiert werden. Sie kann Gesundheit und Heilung nicht salutogen ausrichten – das kann nur unter dem Dach einer Volksgesundheit (Public Health) unter Begriffen der Globalen Gesundheit nach besten Kräften gelingen. Hier besteht erheblicher Forschungsbedarf, der Integration und gesundheitlichen Mehrwert durch neue Modellierungen salutogener Diversität und Kohärenz leistet. Das bedeutet: aus ethischer Sicht muss die aktuelle Logik umgekehrt werden, ökonomisch und konzeptuell. Leitend sollten philosophisch geschulte Wissenschafts-Prinzipien der Klarheit, Wahrheit und Angemessenheit sein. Ein Beispiel: während trotz erheblichen Forschungsaufwandes ohne positiven Wirksamkeitsnachweis die Homöopathie noch immer massiv privilegiert ist, wird die nachweislich wirksame physikalische Therapien der Akupunktur kaum seriös erforscht, beschrieben und honoriert. Auch kommunikative oder spirituelle Heilmethoden können durch rigorose Aufklärung ihres Beitrags zu Gesundheit und Heilung aus ideologischen oder Interessen-geleiteten Narrativen gelöst werden. Ethische Standards sind dabei keine Frage der Satzung, sondern der Praxis, keine Checkliste, sondern die Aufgabe ehrlicher und vertrauensvoller Kommunikation. Es kann keine eingehegten Bereichsethiken ohne inneren Zusammenhang mit dem guten Leben geben.

Welche ethischen Fragen ergeben sich aus der zunehmenden Nutzung von Künstlicher Intelligenz und Robotik im Gesundheitswesen?

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Künstliche Intelligenz und Robotik im Gesundheitswesen können Prozesse optimieren, Automation effizienter und effektiver machen. Das hängt davon ab, wie Datenbasis, Algorithmen mit dem Systemzweck verbunden sind bzw. ihm dienen. Läuft alles kohärent im erklärten Zweck zusammen? Verstehen wir Gesundheit wie oben als ganzheitlichen Begriff, muss eine Begriffsklärung am Anfang und fortlaufend im Prozess stehen, die auf der Höhe der Technologie und des Wissens um Gesundheit bleibt. Zu hohen Erwartungen an Qualitätsgewinne oder zu Panik ist kein Anlass, wenn wir unserer Bildung und Wissenschaft vertrauen können und uns auf die Kompetenz unserer Demokratie verlassen wollen, das Beste für die Bürger zu schaffen. In diesem Sinne stehen wir vor einer überfälligen Grundsatzentscheidung. Wenn wir es ernst meinen mit der Rede davon, die Technik müsse dem Menschen dienen, dann müssen wir auch die Voraussetzungen dafür schaffen, dass wir dazu in der Lage sind, zu verstehen was wir tun. Das beginnt wieder mit der Sprache und dem Subjekt. Bequemlichkeit oder „Rationalisierung“ kann nicht (mehr) Treiber technologischer Innovation sein, sondern ausschließlich das gute Leben, bzw. der Beitrag, den wir mit unseren Fähigkeiten dazu leisten können. Der vom Menschen auf Maschinen verlagerte Mehrwert der Arbeit muss entsprechend sozialisiert werden, kann nicht aus dem Wertschöpfungskreis der Solidargemeinschaft ausgegrenzt werden. Maschinen arbeiten nicht, sie funktionieren. Der Mut und die Fähigkeit, sich des eigenen Verstandes zu bedienen (Immanuel Kant), muss mit Umsicht und Verantwortung verbunden an der Spitze der Modernisierung stehen. Gesundheit eignet sich als ästhetischer Oberbegriff sehr gut, um diese Arbeit zu leiten, denn darin erhalten die Mittel ihren Zweck und der Prozess seine Methodik. Am Ende geht es darum, vernünftig zu sein und ehrlich Gesundheit zu befördern. Alles andere ergibt sich daraus, wie integer, also sinngetreu, wir die dafür nötigen Mittel organisieren. Das Verhältnis des Menschen zur Technologie ist so alt wie der Mensch, die Urform der Digitalisierung ist der instrumentelle Einsatz unserer Hände. Immer wieder haben wir neu lernen müssen, mit der Spannung zwischen dem vermeintlich Möglichen und dem Richtigen umzugehen. Feuer, Elektrizität, Kernenergie sind nur drei Etappen. Die Intervalle werden jedoch sprunghaft kürzer. Wir müssen entsprechend mehr investieren, um zu lernen was wir tun. Wir können Algorithmen vieles überlassen aber müssen uns bei der Frage der Dienlichkeit auf das menschliche Urteilen verlassen: den nur das kann Fehler machen, Unerhörtes erfahren und daraus Unerwartetes lernen. In Bereichen wie Biotechnologie, internationales Bankenwesen, Cyber-Sicherheit haben wir die Kontrolle vielfach auf automatisierte Verfahren übertragen. Das kann aber nur funktionieren, wenn im Zweifelsfall der Mensch Verantwortung nur an Menschen delegiert, sich nicht auf angeblich überlegene Maschinen verlässt. Deren Überlegenheit ist immer kritisch, immer abhängig, immer gemacht. Nur der Mensch ist mit dem Chaos der Natur verbunden, dem all dies entstammt. Die Arbeitswelt und das Gesundheitswesen werden sich verändern. Wie sie sich verändern, hängt aber nicht von der Technologie ab, sondern von unseren Entscheidungen und unseren Investitionen in Bildung und Gesundheit. Ob „Roboter“ einmal echte Verantwortung trage können, spielt hier keine Rolle. Dann müssen wir eben mit ihnen gemeinsam Lösungen suchen – wie mit einem Taschenrechner, indem wir uns nicht unterwerfen, sondern mit ihm spielen, menschlich. Das zum Zweck der Gesundheit global zu tun und intelligent in den Dienst der Menschheit zu stellen, ist eine Aufgabe, die ethisch vordringlich ist und praktisch die Integration sämtlicher Verfügbarer Kompetenzen verlangt.

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