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Beispiel für barrierefreies Wohnen im Alter: Das Bielefelder Modell

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Interview mit Prof. Dr. Klaus Wingenfeld

Über Prof. Dr. Klaus Wingenfeld:

Prof. Dr. Klaus Wingenfeld ist Geschäftsführer des Instituts für Pflegewissenschaft und Honorarprofessor an der Universität Bielefeld. Er absolvierte ein Studium der Soziologie an der Universität Münster und promovierte 2004 an der Bielefelder Fakultät für Gesundheitswissenschaften.

 Aktuelle Arbeitsschwerpunkte: Qualitätsentwicklung und Qualitätsbeurteilung in der Langzeitpflege, Methoden der Einschätzung von Pflegebedürftigkeit, innovative Versorgungskonzepte in der ambulanten Pflege.

 … war maßgeblich beteiligt an der Entwicklung des seit 2017 geltenden sozialrechtlich Verständnisses von Pflegebedürftigkeit und neuer Konzepte zur Qualitätssicherung in der Langzeitpflege.

… trug die Koordinationsverantwortung für das 2020 abgeschlossene Projekt „Evaluation und qualitative Weiterentwicklung des Bielefelder Modells“, das in enger Kooperation zwischen dem Institut für Pflegewissenschaft und den Trägern des Bielefelder Modells durchgeführt wurde.

Was ist das Bielefelder Modell?

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Das Bielefelder Modell umfasst ein quartiersbezogenes Wohn- und Versorgungskonzept, das auf die Bedürfnisse hilfe- und pflegebedürftiger Menschen zugeschnitten ist. Die Menschen leben hier in einer Umgebung, in der sie trotz gesundheitlicher Beeinträchtigungen Sicherheit und Gemeinschaft erfahren können. Ein Wohnungsunternehmen und mehrere ambulante Dienste arbeiten eng zusammen, um alle benötigten Hilfen rund um die Uhr zu gewährleisten. Auch ehrenamtliche Hilfen spielen eine wichtige Rolle. Hinzu kommen bestimmte bauliche Strukturen: Barrierefreiheit oder zumindest barrierearme Strukturen, ein sog. Wohncafé als Begegnungszentrum, ein Quartiersbüro als Stützpunkt für die beruflichen Helfer*innen und Anlaufstelle für Ratsuchende, eine besonders ausgestattete Pflegewohnung und Verschiedenes mehr. All dies ist in der Regel in eine größere Wohnanlage integriert, steht aber im Prinzip allen interessierten und bedürftigen Menschen aus dem umliegenden Wohngebiet offen.

Welche Stärken sehen Sie in diesem Modell?

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Die wichtigste Stärke ist die erfolgreiche Verknüpfung von Versorgungssicherheit und Lebensalltag. Bewegt man sich in den betreffenden Quartieren, entsteht nicht das Gefühl, sich auf dem Gelände einer Versorgungseinrichtung oder einer Anlage des betreuten Wohnens zu befinden. Trotzdem gibt es zahlreiche Angebote für pflegebedürftige Menschen, aber auch soziale und kulturelle Angebote, die auf andere Zielgruppen zugeschnitten sind.

Wie kann man den Mangel an bezahlbarem Wohnraum für ältere Menschen in Städten und Ballungsräumen lösen und gleichzeitig die Qualität der Wohnungen und Wohnumfelder sicherstellen?

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Zum einen ist in diesem Zusammenhang die Kooperation auf kommunaler Ebene von Bedeutung. Für Konzepte dieser Art ist es besonders wichtig, dass eine Kommune es als eigene Aufgabe begreift, Flächen und Immobilien für Menschen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen verfügbar zu machen. Zum anderen ist hier die Wohnungswirtschaft gefordert. Im Bielefelder Modell gibt es eine Mischung aus frei finanzierten und öffentlich geförderten Wohneinheiten. Bislang ist es gelungen, bezahlbaren Wohnraum und gleichzeitig Wohn- und Versorgungsqualität zu gewährleisten. Schon bei der Standortwahl gilt es, sich dieser Ziele bewusst zu sein.

Es gilt ja noch immer der Grundsatz „ambulant vor stationär“. Kann das Bielefelder Modell hierzu einen Beitrag leisten?

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Nach unseren Forschungsergebnissen tut es das. Es gelingt bislang offenbar recht gut, pflegebedürftige Menschen oder auch Menschen mit Behinderung im Verlauf gesundheitlicher Krisen wirksam zu unterstützen, sodass Übergänge in die stationäre Langzeitpflege selten sind oder zumindest hinausgezögert werden können. Eine der wichtigsten Voraussetzungen stellt dabei die Gewährleistung schneller Hilfen in akuten Situationen während der Nacht dar. Ansonsten bestehen durch das Netz aus professionellen und ehrenamtlichen Hilfen, aber auch durch die baulichen Strukturen generell gute Voraussetzungen zur Bewältigung von Hilfe- und Pflegebedürftigkeit. Der Erfolg des Bielefelder Modells führt zum Teil zu Effekten, die so nicht unbedingt gewollt sind. Mieter*innen wohnen lange im Bielefelder Modell, sodass es in vielen Wohnanlagen, die vom beteiligten Wohnungsunternehmen betrieben werden, ein hohes Durchschnittsalter (über 80 Jahre) und einen hohen Anteil pflegebedürftiger Menschen gibt. Das angestrebte Ziel einer Mischung der Generationen und Lebenssituationen ist dadurch nur begrenzt erreichbar.

Wie können die Bedürfnisse von älteren Menschen mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen und Lebensweisen besser berücksichtigt werden?

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Ansätze wie das Bielefelder Modell bieten viel Raum, Unterstützung und Ermutigung dazu, sich für die eigenen Belange und Lebensstile zu engagieren. Es lebt aber von der Eigeninitiative. Wo sie fehlt, kommt kulturelle Identität nicht zum Zuge. Meist ist es aber so, dass das kulturelle Leben in den jeweiligen Quartieren prägend wirkt. Deshalb gibt es viele unterschiedliche Ausprägungen des Bielefelder Modells, je nach Standort.

Wie sieht die Zukunft des selbstbestimmten Wohnens im Zusammenhang mit dem Bielefelder Modell aus?

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Das Modell ist ein vielversprechender Ansatz, Versorgungs- und Lebensqualität miteinander in Einklang zu bringen, und kann zur Nachahmung empfohlen werden. Inzwischen trifft man das Bielefelder Modell in verschiedenen anderen Gegenden Deutschlands. Aber in unserem Gesundheits- und Sozialsystem fehlen noch die Strukturen, um es langfristig abzusichern. Gemeinschaftliche Aufgaben können häufig nur durch Projektmittel bzw. eine Sonderförderung finanziert werden – zum Beispiel eine Nachtbereitschaft für Notsituationen im jeweiligen Quartier oder die systematische Begleitung und Einbindung ehrenamtlicher Helfer*innen. Das Engagement der Kooperationspartner allein genügt nicht. Ich sehe eine wichtige sozialpolitische Aufgabe darin, für quartiersbezogene Versorgungskonzepte dieser Art stabilere leistungsrechtliche Grundlagen zu schaffen. Die Zeit der Covid-19-Pandemie, Personalengpässe und der zunehmende ökonomische Druck haben das Bielefelder Modell an die Grenze der Belastbarkeit gebracht.

Gibt es Pläne, das Modell weiterzuentwickeln und anzupassen?

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Ja, einige Überlegungen dazu gibt es durchaus. Dazu gehört beispielsweise die Integration von Leistungen im Bereich der Tagespflege, die Schaffung geeigneter Voraussetzungen zur Versorgung dementiell Erkrankter und der Ausbau der Möglichkeiten, mit dem Konzept des „Pflegewohnens auf Zeit“ schwierige Krankheitsphasen besser zu überbrücken. Auch wird zunehmend das Erfordernis eines systematischen internen Qualitätsmanagements diskutiert. Im Grunde sind die beteiligten Kooperationspartner ständig gefordert, sich auf wechselnde Rahmenbedingungen einzustellen. Auch das Bielefelder Modell hat mit Fachkräftemangel und zunehmendem Kostendruck zu kämpfen. Hier wird es wahrscheinlich noch eine ganze Weile eine Suche nach geeigneten Lösungsstrategien geben müssen.

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