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Interdisziplinäre Ansätze in der Schmerzmedizin: Mehr als nur Behandlung

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Interview mit Prof. Dr. Wilfried Witte

Über Prof. Dr. Wilfried Witte:

Prof. Dr. Wilfried Witte, M.A. – Schmerzmediziner, Leiter der Schmerzabteilung der Universität Bielefeld am Campus Bielefeld-Bethel (Klinik für Anästhesiologie). Facharzt für Anästhesiologie, Intensivmedizin und spezielle Schmerztherapie, außerdem Historiker. Aktuelle Arbeitsschwerpunkte: Kulturgeschichte der Schmerztherapie, CRPS, Versorgungsfragen der Rheumatologie, Gender-Aspekte bei Migräne.

Welche Herausforderungen sehen Sie in der aktuellen Behandlung von chronischen Schmerzen?

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Die Unterscheidung von akuten zu chronischen Schmerzen markiert die Begründungsphase der Schmerztherapie als Therapie chronischer Schmerzen im 20. Jahrhundert. Die weitere Forschung arbeitete sich unter anderem ab an Fragen, wie es zur Ausbildung von chronischen Schmerzen kommen kann, d.h. wie es zur Chronifizierung von Schmerzen kommen kann. Das ursprüngliche Modell, das darauf abzielte, dass der chronische immer aus einem akuten Schmerz stamme, der auf die eine oder andere Weise doch verbunden sein müsse mit einer Gewebsläsion, kann so nicht mehr gehalten werden. Inzwischen spricht man zusehends mehr von Schmerzmedizin als von Schmerztherapie, was ausdrückt, dass es mehr um Diagnostik als um Therapie geht und dass die tatsächliche Therapie auch fokussiert ist auf Akzeptanz. Das heißt aber nicht, dass die Therapie chronischer Schmerzen keine Fortschritte für die einzelnen Patientinnen und Patienten erzielen kann. Der Goldstandard der Therapie chronischer Schmerzen ist die interdisziplinäre multimodale Schmerztherapie. Große Herausforderungen sind nicht nur zum einen, die Schmerztherapie möglichst vielen zugänglich zu machen, was auf die eine oder andere Weise immer auch Fragen der Finanzierung umfaßt. Es wird zum anderen auch darum gehen, der Welt, die im Aufruhr ist, gerecht zu werden. Die Migration vieler Menschen, die nicht aus freien Stücken und bei Wohlbefinden geschieht, ist eine internationale Realität und wird auch die Therapie chronischer Schmerzen mehr und mehr beschäftigen. Für all die Menschen, die anderen politischen, kulturellen und religiösen Zusammenhängen entstammen, schmerztherapeutische Hilfestellung leisten zu können, wird eine Herausforderung sein, für die das inhaltliche „Instrumentarium“ zu großen Teilen noch entwickelt werden muss.

Was sind die häufigsten Missverständnisse über chronische Schmerzen, denen Sie in ihrer Arbeit begegnen?

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Schmerzpatienten und –patientinnen können zu ExpertInnen ihrer Krankheit, der Schmerzkrankheit, werden, aber zunächst einmal sind sie Betroffene, die einer Bevölkerung entstammen, die kein tiefes Verständnis chronischer Schmerzen hat. Das allgemeine medizinische Verständnis entstammt im 19. Jahrhundert der Pathologie eines Rudolf Virchow (jede Pathologie kann auf einen Zellprozess zurückgeführt werden) und der Biomedizin, die nach dem Zweiten Weltkrieg maßgeblich wurde. Darin sind es subzelluläre, genetische Prozesse, auf die die medizinische Forschung fokussiert. Im Alltag und im alltäglichen Verständnis bedeutet das, dass ein Schmerz, der nicht weichen will, etwas sein müsse, was die Expertin oder der Experte reparieren kann. Irgendetwas muss demnach körperlich defekt sein. Das gilt es herauszufinden und wieder zu richten. Natürlich gibt es derlei Defekte. Aber es ist nicht der typische Fall chronischer Schmerzen als Krankheit, also nicht als reines Symptom. Um ein Beispiel zu geben: das Fibromyalgiesyndrom geht mit einem Ganzkörperschmerz einher; es wird im ICD 11 (der aktuellen internationalen Klassifikation der Krankheiten) mittlerweile als primärer Schmerz kategorisiert. Das wirft ein Licht darauf, dass es keinen großen Sinn macht, die eine körperliche Ursache zu suchen: der Schmerz ist quasi zuerst da, primär. Chronische Schmerzen nur körperlich begründet und beeinflussbar aufzufassen, bedeutet, sie zu somatisieren. Im somatisierten Verständnis chronischer Schmerzen kann man die zugrunde liegende körperliche Ursache beseitigen. Tatsächlich kommen sehr viele Patienten und Patientinnen zu uns, die jahrelang von Facharzt zu Fachärztin gelaufen sind, aber repariert wurde nichts bzw. nichts so, dass die Schmerzen geringer geworden wären; vielmehr nahmen diese mit fortschreitender Chronifizierung immer mehr zu und/oder dehnten sich aus (betrafen weitere Regionen des Körpers – bis hin zum Ganzkörperschmerz). Das Mißverständnis, das häufig präsentiert wird von Patienten und Patientinnen – gerade zu Anfang einer Schmerztherapie – ist, dass sie einer Somatisierung anhängen, während psychosoziale Aspekte, die die Schmerzkrankheit begründen oder verstärken, peinlich gemieden werden. Dann gilt es regelhaft, gerade daran zu arbeiten, diese Barriere zu beseitigen. Die positive Beeinflussung von chronischen Schmerzen im Sinne einer Verbesserung der Lebensqualität bedeutet gerade nicht, dass die Betroffenen keine Linderung ihrer Schmerzen erlangen können. Je länger jedoch ein chronischer Schmerz besteht, umso wahrscheinlicher ist es, dass er nicht ganz wieder aufhören wird. Die Forderung von Patientinnen und Patienten: bitte stell den (chronischen) Schmerz ab (Reparatur), muß jedoch häufig zunächst als unrealistisch erkannt werden von den Betroffenen – bevor das Leben wieder lebenswerter werden kann.

Welche Fortschritte haben Sie mit Ihrem Forschungslabor für „Quantitative sensorische Testung“ gemacht?

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Die Mühlen mahlen zunächst einmal langsam. Ich entstamme im wesentlichen der kulturwissenschaftlich orientierten Schmerzforschung. Zunächst stand für mich jahrelang im Mittelpunkt meiner Forschung, die Begründungsphase der Schmerztherapie in Deutschland zu untersuchen. Das war ein echtes Forschungsdesiderat, da man bis dahin nur anekdotisch davon sprach und – wie das der Zeitzeugenschaft zu eigen ist – jeder seine ganz persönliche Wahrheit formulierte. In einem zweiten Schritt möchte ich neben der Fortführung historisch- kulturwissenschaftlicher Themen den Bogen spannen zur Analyse körperlicher Phänomene. Damit ist der Bereich der psychophysischen Forschung angesprochen. Schmerz ist zwar immer auch historisch (das Ausdrucksverhalten wandelt sich), aber zu seiner Zeit gibt es natürlich auch objektivierbare körperliche Schmerzäußerungen, die detektiert und zahlenmäßig erfaßt sowie analysiert werden können – bei klinischen Fragestellungen und in der Grundlagenforschung. Aber – die Mühlen mahlen langsam – vor dem Ertrag kommt die Arbeit, die wiederum nur aufgenommen werden kann, wenn die Voraussetzungen gegeben sind. Wie Sie wissen, ist meine Berufung noch frisch und wir befinden uns gerade in der Phase, das QST-Forschungslabor einzurichten. Ich hoffe, dass das bis Ende des Jahres umgesetzt werden kann.

Wie kann eine interdisziplinäre Herangehensweise die Behandlung von Patienten mit chronischen Schmerzen verbessern?

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Das ist die Frage, die zur Begründung der interdisziplinären multimodalen Therapie chronischer Schmerzen geführt hat. Man mußte sich zuerst von der Vorstellung lösen, dass der Arzt, einem Genius oder Priester gleich, kraft seiner Persönlichkeit und seiner Expertise, allein in der Lage ist, die Dinge zu richten. Wenn das zugrundliegende Modell der Therapie chronischer Schmerzen das biopsychosoziale Modell ist, d.h. eines, das nicht in Konkurrenz zum biomedizinischen steht, sondern dieses um das psychosoziale Moment erweitert, dann muss dieses Moment auch vollumfänglich zum Tragen kommen. Dafür braucht es viele, die an einem Strang ziehen. Wichtig war, dass die klinische Psychologie integriert wurde. Das geschah ab den 1980er Jahren, nachdem zuvor Methoden der behavioralen Psychologie in der Schmerzforschung Aufnahme gefunden hatten. Wichtig sind aber auch alle anderen Berufsgruppen, die integriert sind und ihre eigene Expertise einbringen: pain nurses, PhysiotherapeutInnen, ErgotherapeutInnen, ExpertInnen nonverbaler Techniken usw. Bei flacher Hierarchie arbeiten sie alle zusammen im Team, um die verschiedenen Aspekte des chronischen Schmerzes einzelner PatientInnen herauszuarbeiten und den Ressourcen, die die einzelnen Betroffenen haben, näher zu kommen. Die interdisziplinäre Herangehensweise ist letztlich häufig die einzige, der es gelingen kann, das, was die SchmerzpatientInnen selbst im Umgang mit ihren Schmerzen machen können, herausarbeiten. Damit wirkt sie der Ohnmacht der SchmerzpatientInnen entgegen, die sich häufig zunächst so sehr in einer Sackgasse wähnen, dass sie an ihren Schmerzen verzweifeln.

Wie messen und beurteilen Sie den „Erfolg“ in der Schmerztherapie?

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Darauf gibt es keine einfache und auch keine kurze Antwort. Also beschränke ich mich auf eine Skizze. Objektiv messen kann man den Schmerz von Versuchspersonen, die keine SchmerzpatientInnen sind – also im Labor. Das macht aber keine Aussage darüber, wie ein Schmerzpatient oder eine Schmerzpatientin seine/ihre Schmerzen erlebt. Für diesen Schmerz gibt es kein objektives Messkriterium, aber valide Instrumente, die das verbale und emotionalisierte Ausdrücken von Schmerzen erfassen können. Erfolge der Therapie in primär invasiven Fächern sind häufig zunächst einmal durchschlagend, aber – erfaßt man es statistisch – andererseits nicht in jedem Fall von mehrjähriger Dauer. Erfolge in der Therapie innerer Krankheiten und des chronischen Schmerzes machen sich hingegen häufig an kleinen Dingen fest, die eine größere Zufriedenheit ausdrücken, die wiederum erfaßt und skaliert werden kann. Die ursprüngliche Hoffnung bezogen auf die multimodale Schmerztherapie war: das macht man einmal, dann sind die Wahrheiten des individuellen Schmerzes vermittelt und es kann nur noch besser werden. Das trifft einmal zu und dann wieder gar nicht. Es gibt PatientInnen, die man mit ihren Schmerzen, mit denen sie schwer klar kommen, durch ́s Leben oder durch längere Phasen ihres Lebens begleitet. Aber es gibt auch bedeutende Besserungen. Wenn SchmerzpatientInnen jedoch auf der Skala von 0 bis 10 ihre durchschnittliche Schmerzintensität taxieren, ist das nicht der Weisheit letzter Schluss. Denn zur Wahrheit gehört auch, dass der eine mit einer hohen Schmerzintensität von zum Beispiel 7 von 10 (7/10) etwas ganz anderes bezeichnen kann als die andere, die es mit einer Intensität von 6/10 auf der numerischen Analogskala nicht mehr aushält vor Schmerzen. Gleichwohl sind diese Skalierungen – als approximative Instrumente - fester Bestandteil in der Verlaufsbeobachtung der Therapie chronischer Schmerzen. Es geht dabei weniger um einen einzelnen Wert zu einem Zeitpunkt, sondern um Verläufe. Einen Tagesfragebogen füllen sowohl die PatientInnen in unserer Schmerzambulanz bei jedem Termin aus als auch diejenigen, die sich auf der Schmerzstation einer multimodalen Therapie stellen.

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