Experteninterview mit Prof. Dr. Zekirija Sejdini
Über Prof. Dr. Zekirija Sejdini:
Zekirija Sejdini ist ein renommierter österreichischer islamischer Theologe und Religionspädagoge. Er studierte Islamische Theologie, Philosophie und Religionspädagogik in Kairo und Istanbul und war in verschiedenen akademischen und religiösen Positionen in Wien tätig.
2014 wurde er zum ersten Universitätsprofessor für Islamische Religionspädagogik an der Universität Innsbruck ernannt und leitet seit 2017 das dortige Institut für Islamische Theologie und Religionspädagogik. Sejdini promovierte über das Wissensverständnis eines Sufi-Mystikers und erhielt 2018 den Kurt-Schubert-Gedächtnispreis für seine Beiträge zur interreligiösen Verständigung.
Er vertritt eine moderne Sicht auf islamische Theologie und Pädagogik, die die Notwendigkeit einer kritischen Auseinandersetzung mit traditionellen Ansichten und die Einbeziehung interreligiöser Perspektiven betont.
Wie definiert der Islam die Verpflichtung der Familie zur Pflege älterer Angehöriger?
Aus islamischer Sicht ist das Altern ein natürlicher Bestandteil des menschlichen Lebens. Der Mensch und sein Leben als solches gründen auf der von Gott gegebenen Würde des Menschen. Aus dieser Perspektive sind auch die älteren Mitglieder in der Gesellschaft, aber auch in der eigenen Familie zu betrachten. Eine Reduzierung des Alters auf biologisch-organische Prozesse ist daher nicht zulässig. Die Fürsorge für die Eltern, der im Islam eine besondere Bedeutung zukommt, ist eine wesentliche Verpflichtung der Kinder. Der Koran betont unmissverständlich die Bedeutung der Güte gegenüber den Eltern. Dies gilt insbesondere dann, wenn die Eltern in ein pflegebedürftiges Alter kommen. Die Kinder werden aufgefordert, ihre Eltern mit Respekt zu behandeln, Mitgefühl zu zeigen und für sie zu sorgen. Dies wird nicht nur im Koran, sondern auch in zahlreichen Aussprüchen des Propheten Muhammad betont.
Wie wird die Nutzung von Pflegeheimen im Vergleich zur häuslichen Pflege im islamischen Kontext gesehen?
Es ist schwierig, von einer einheitlichen islamischen Perspektive zu dieser Thematik zu sprechen. Die Herangehensweisen variieren je nach kulturellen und individuellen Überzeugungen, wobei vor allem die lokalen Kulturen eine große Rolle spielen. Unabhängig von den verschiedenen Variationen stellt die häusliche Pflege im islamischen Kontext die bevorzugte Option dar, vor allem weil die häusliche Atmosphäre es dem Pflegebedürftigen ermöglicht, in einer vertrauten Umgebung zu bleiben. Darüber hinaus gilt die häusliche Pflege als Zeichen der Familienbande und des Respekts gegenüber den Eltern. So wie die Eltern ihren Kindern Zeit und Zuwendung geschenkt haben, wird von den Kindern erwartet, dass sie eine ähnliche Haltung einnehmen, wenn die Eltern pflegebedürftig werden. Dies wird als Teil der familiären Verantwortung angesehen. In einigen Fällen kann der Bedarf an spezialisierter medizinischer Versorgung oder der Zugang zu Ressourcen in Pflegeheimen dazu führen, dass Pflegeheime als geeignete Option angesehen werden. In solchen Fällen kann die Unterbringung der Eltern in einem Pflegeheim als letzter Ausweg angesehen werden, auch wenn dies in muslimischen Kreisen häufig als unverantwortlich und achtlos angesehen wird.
Bietet der Islam Anleitung für die Pflege von älteren Menschen mit eingeschränkter Gesundheit?
Ja, insbesondere in der islamischen Ethik und Lehre finden sich allgemeine Prinzipien, die den Rahmen für den Umgang mit älteren Menschen, auch mit gesundheitlichen Einschränkungen, vorgeben. Diese basieren auf dem Koran, der primären islamischen Quelle, aber auch auf der Lebenspraxis des Propheten Muhammad. Wichtigster Aspekt ist die Wahrung der Menschenwürde und die Achtung jedes einzelnen Menschen, unabhängig von seinem Alter und seinem Gesundheitszustand. Insbesondere bei eingeschränkter Gesundheit ist auf das Ehrgefühl des Familienmitglieds Rücksicht zu nehmen. Wichtig ist auch, dass ältere Menschen mit eingeschränkter Gesundheit nicht als Last empfunden werden und dies auch nicht spüren. Vielmehr soll die Pflege, die viele Aspekte umfasst und als Teil der familiären Verpflichtung gesehen wird, mit Respekt und Würde wahrgenommen werden. Es ist wichtig, diesen Menschen zu vermitteln, dass sie trotz ihres hohen Alters und ihrer eingeschränkten Gesundheit ein wichtiger Teil der Familie sind.
Gibt es im Islam besondere Betrachtungen zur Schmerztherapie, wenn diese Morphin enthält und Palliativversorgung?
Die Gesundheit und das Wohlergehen des Menschen haben im Islam höchste Priorität. Daher gibt es im Islam keine expliziten Verbote gegen den Einsatz bestimmter Schmerzmittel in der Schmerztherapie oder Palliativmedizin. Es besteht Konsens darüber, dass der Einsatz von Medikamenten, die zu einer Schmerzlinderung führen und das Leiden kranker Menschen lindern, erlaubt ist. Unterstützt wird dies durch den islamischen Grundsatz, dass der Schutz des Lebens und die Linderung von Leiden oberste Priorität haben. Natürlich gilt auch hier der Grundsatz, dass derartige Verfahren nur unter ärztlicher Aufsicht durchgeführt werden dürfen und nur fachkundiges Personal über die Art der Therapie entscheiden darf. Aufgrund der großen religiösen Vielfalt innerhalb des Islam ist es jedoch ratsam, konkrete Fälle mit den Betroffenen und ihren Angehörigen zu besprechen, da sich auch innerhalb der muslimischen Gemeinschaft unterschiedliche Traditionen im Umgang mit der Schmerztherapie entwickelt haben.
Wie geht der Islam mit Entscheidungen am Lebensende um, besonders wenn es um lebenserhaltende Maßnahmen geht?
Auch hier ist eine einheitliche Antwort schwierig. Eine gemeinsame Grundlage aller Musliminnen ist der Glaube an das jenseitige Leben, das alle Menschen nach der Auferstehung erwartet, und daran, dass der Mensch nicht Eigentümer seines Körpers und seiner Seele ist, sondern dass diese ihm von Gott anvertraut wurden. Muslime leben daher in dem Bewusstsein, dass sie das Ende ihres Lebens nicht unmittelbar bestimmen können, aber auch, dass sie alles in ihrer Macht Stehende tun müssen, damit jede legitime Möglichkeit genutzt wird, einen Menschen am Leben zu erhalten. Das islamische Menschenbild schließt die Selbsttötung aus. Dies ist einer der Gründe, warum Selbstmord verboten ist. Sterbehilfe wird in diesem Zusammenhang auch als Selbsttötung oder Tötung angesehen. Zur passiven Sterbehilfe gibt es dagegen unterschiedliche Positionen. Es gibt keine religiöse Begründung für die Ablehnung lebenserhaltender Maßnahmen. Dennoch gibt es keine allgemeine Regel, die auf jede Situation angewendet werden kann. Wichtig ist es, situationsbezogen zu handeln und im Rahmen der ethischen Vorgaben des Islam die Wünsche des Patienten und seiner Familie, aber auch die fachliche Einschätzung der Ärzte zu berücksichtigen.
Experteninterview mit Dr. Ulrich Grabenhorst
Über Dr. Ulrich Grabenhorst:
Dr. med. Ulrich Grabenhorst ist Facharzt für Innere Medizin mit den Schwerpunkten Hämatologie, Onkologie und Palliativmedizin. Seit mehr als zwei Jahrzehnten widmet er sich mit Hingabe der Versorgung schwerstkranker und sterbender Menschen.
Nachdem er sich 1998 niedergelassen hatte, war Dr. Grabenhorst zunächst in einer onkologischen Schwerpunktpraxis tätig. Hier leistete er Pionierarbeit beim Aufbau des Palliativnetzes der Stadt Mönchengladbach. 2010 vollzog er den Wechsel in den hausärztlichen Bereich, wo er gemeinsam mit drei Kolleginnen die Betreuung von AAPV-Patienten (Allgemeine Ambulante Palliativversorgung) und eines Hospizes übernahm.
Seit 2011 setzt sich Dr. Grabenhorst für die Strukturierung und Verbesserung der Spezialisierten Ambulanten Palliativversorgung (SAPV) in Mönchengladbach und dem Kreis Viersen ein. Dr. Grabenhorst ist engagiert für die bundesweite
Was genau ist die Spezialisierte ambulante Palliativversorgung (SAPV)?
Wesentliche Merkmale der Spezialisierten Ambulanten Palliativversorgung sind: Die spezialisierte ambulante Palliativversorgung (SAPV) dient dem Ziel, die Lebensqualität und die Selbstbestimmung von Palliativpatienten so weit wie möglich zu erhalten, zu fördern und zu verbessern und ihnen ein menschenwürdiges Leben bis zum Tod in ihrer gewünschten Umgebung zu ermöglichen. Rechtsgrundlage für die SAPV ist der §37b SGB V, der §132d SGB V und die SAPV Richtlinie des G-BA, diese definiert Leistungsvoraussetzungen und Inhalte der SAPV. siehe: https://www.g-ba.de/downloads/62-492-2988/SAPV-RL_2022-09-15_iK-2022-11-24.pdf Die spezialisierte ambulante Palliativversorgung richtet sich an Palliativpatienten und deren soziales Umfeld, wenn die Intensität oder Komplexität der aus dem Krankheitsverlauf resultierenden Probleme den Einsatz eines spezialisierten Palliativteams notwendig macht - vorübergehend oder dauerhaft. Im Vordergrund steht anstelle eines heilenden Ansatzes die medizinisch-pflegerische Zielsetzung, Symptome und Leiden einzelfallgerecht zu lindern. Die Leistungsvoraussetzungen sind das Vorliegen einer weit fortgeschrittenen Erkrankung in Verbindung mit einem besonderen Versorgungsbedarf, welcher durch die anderweitigen ambulanten Versorgungsformen nicht gedeckt werden kann. Eine Erkrankung gilt als weit fortgeschritten, wenn die Verbesserung von Symptomatik und Lebensqualität sowie die psychosoziale Betreuung im Vordergrund der Versorgung stehen und nach begründeter Einschätzung der verordnenden Ärztin oder des verordnenden Arztes die Lebenserwartung auf Tage, Wochen oder Monate begrenzt ist ( § 3SAPV – RL). Die SAPV beinhaltet insbesondere spezialisierte palliativärztliche und palliativpflegerische Beratung und Versorgung, einschließlich der Koordination von notwendigen Versorgungsleistungen bis hin zu einem umfassenden, individuellen Unterstützungsmanagement. Multiprofessionalität, 24-stündige Erreichbarkeit an sieben Tagen in der Woche und Spezialistenstatus (durch Weiterbildung und Erfahrung) der primär in der Palliativversorgung tätigen einzelnen Leistungserbringer sind unverzichtbar. Neben der menschlichen/psycho-onkologischen/pflegenden/palliativen Zuwendung ist z.B eine differenzierte Schmerztherapie, auch mit Pumpensystemen, Aszites-/Pleurapunktion, Blasenspülung etc. mgl. Grundpflege, als von der Pflegeversicherung getragene Leistung, ist nicht Teil der SAPV. SAPV ist immer nur eine ergänzende Leistung, die übrigen Sozialleistungsansprüche bleiben hiervon unberührt. Im konkreten Fall muss geklärt werden, welche Leistungen durch Hausarzt/Hausärztin, Pflegedienst oder SAPV Team übernommen werden.
Gibt es bestimmte Kriterien oder Einschätzungen, die erfüllt sein müssen, bevor die SAPV als Option in Betracht gezogen wird?
Ja, bei Patienten, welche - an einer nicht heilbaren, fortschreitenden und so weit fortgeschrittenen Erkrankung leiden, so dass dadurch ihre Lebenserwartung auf wenige Tage, Wochen oder Monate begrenzt ist und - einer besonders aufwendigen palliativpflegerischen und palliativmedizinischen Versorgung bedürfen und bei denen der Erhalt der Lebensqualität und die psychosoziale Begleitung im Vordergrund der Versorgung steht und - durch die Regelversorgung, einschließlich der allgemeinen ambulanten Palliativversorgung, sowie ggfs. die Leistungen des ambulanten ehrenamtlichen Hospizdienstes nicht ausreichend versorgt würde sollte die Möglichkeit der ambulanten Versorgung im Rahmen der SAPV bedacht werden. Der besondere Bedarf ergibt sich in erster Linie aus der Symptomlast – einschließlich psychischer und psychosozialer Not - welche unter palliativen Gesichtspunkten angegangen werden soll. Ob die Regelversorgung, einschließlich der AAPV, hierfür nicht ausreichend ist kann z.B. am bisherigen Verlauf (rezidivierende stationäre Aufenthalte in kurzem Abstand, Drehtüreffekt?) oder an der Dramatik der aktuell stationär diagnostizierten Erkrankung / Progression abgeschätzt werden.
Was bedeutet "Multiprofessionalität" im Kontext der SAPV
Im § 37b SGB V wurde der Rechtsanspruch auf die SAPV im Jahr 2007 beschrieben. Hier wird spezifisch die ärztliche und pflegerische Leistung als Bestandteil der SAPV aufgeführt. In der SAPV Richtlinie, z. B. § 5 Abs. 3 werden die Inhalte ausführlich beschrieben und hierbei die psychosoziale Unterstützung und die Zusammenarbeit mit Seelsorge, Sozialarbeit und ambulanten Hospizdiensten angeführt. Hieraus hat sich das Konzept der „Dritte- Berufsgruppe“ entwickelt. Neben ärztlich und pflegerisch Tätigen ist stets auch Sozialarbeit/Seelsorge/Psychotherapie etc. vorzuhalten um die spezifischen Anforderungen aus diesem Bereich professionell bearbeiten zu können. z. B. klassische Sozialarbeit bezüglich Unterstützungsleistungen bei Ausfall des Familieneinkommens infolge Krankheit oder psychologische Unterstützung des „System-Familie“ mit kleinen Kindern. Dieses Konzept ist auf Palliativstationen in Krankenhäusern, im Hospiz oder im Fall der Kinder-SAPV allgemein anerkannt, im Bereich der Erwachsenen-SAPV wurde die Kostenübernahme für den Dritte Berufsgruppe im kürzlich verabschiedeten Bundesrahmenvertrag nicht bestätigt. Bei der multiprofessionellen Arbeit werden die komplexen Symptome und Beschwerden wie z. B. Schmerzen, Verzweiflung, Todeswunsch und Verlust der Selbstständigkeit oder Würde von mindestens drei (bis vielen ) Professionen gemeinsam analysiert und (Be- ) Handlungsmöglichkeiten entworfen/angewandt. Die multiprofessionelle Arbeit findet ihren Niederschlag in der gemeinsamen Dokumentation und häufigen Team-Besprechungen und der hieraus entwickelten gemeinsamen Haltung und Behandlung.
Welche Ressourcen müssen Angehörige in die Versorgung einbringen, um eine optimale Versorgung gemeinsam mit dem SAPV ermöglichen zu können?
Die SAPV betreut den/die Patienten/Patientin unter Einbezug des engeren sozialen System, der Familie/der Zugehörigen. Eine wichtige Ressource wäre zunächst, die Offenheit und Ehrlichkeit sich jetzt mit Sterben und Tod auseinanderzusetzen. Nur so kann der/die Erkrankte wirklich begleitet werden, die Hand gehalten werden, die existenziellen Fragen ausgehalten werden. Dieses „menschliche dabei bleiben“ ist es sehr wichtig und darf auch nicht mit Aktionismus ersetzt werden. Ein sterbenskranker Menschen braucht zunehmend Unterstützung. Vieles was bisher selbstverständlich war und woran man bisher keinen Gedanken verschwendete, z. B. Essen, Trinken, zur Toilette gehen, etc. wird aufwendig oder sogar unmöglich. Oft haben Patient und Angehörige den Wunsch/die Vorstellung, dass diese „kleinsten und letzten Hilfen“ von nahen Angehörigen/Zugehörigen erbracht werden. Manchmal aber auch gerade nicht! Hier ist neben der SAPV dann oft ein Pflegedienst für die von der Pflegeversicherung abgesicherte Leistung der Körperpflege etc. oder auch eine hauswirtschaftliche Unterstützung, hilfreich. Jeder Mensch ist aber auch ein Unikath und es gibt auch Menschen nie ganz alleine in ihrer Wohnung bis zum Schluss verbleiben wollen und dort sterben wollen. Auch dies ist möglich aber für das SAPV Team auch eine besondere Herausforderung.
Werden die Kosten von der Krankenkasse übernommen?
Ja, dies ist für die gesetzlichen Krankenversicherungen gesetzlich geregelt, und bei den privaten Versicherung mittlerweile zu den Sätzen der gesetzlichen Versicherung auch allgemein akzeptiert.
Wie kann man die SAPV beantragen?
SAPV kann von jedem/er niedergelassenen Arzt/Ärztin verordnet werden. Dies ist aber auch Voraussetzung für die Tätigkeit eines SAPV Teams. Ein Patient/ein Angehöriger kann nicht einfach ein SAPV Team mit der Leistung beauftragen. Für den Auftrag an das SAPV Team ist das „Muster 63“, ein DIN A4 Formular mit 3 Durchschlägen. Vorgeschrieben. Im Rahmen des Entlassmanagement aus dem Krankenhaus kann stellvertretend für den Hausarzt, begrenzt für 7 Tage, auch ein Krankenhaus Arzt/eine Krankenhausärztin SAPV verordnen.
Kann die SAPV auch in stationären Pflegeeinrichtungen oder Hospizen in Anspruch genommen werden?
Ja, SAPV soll in der „vertrauten Umgebung des häuslichen oder Familienbereichs“ erbracht werden. Hierzu zählt auch die stationäre Pflegeeinrichtungen, aber auch z. B. Einrichtung der Eingliederungshilfe oder Einrichtung der Kinder- und Jugendhilfe. Auch im Hospiz ist SAPV möglich, hier jedoch begrenzt auf die ärztliche Teilleistung. Der Gesetzgeber geht davon aus, dass die spezialisierte palliativpflegerische Leistungen durch die im Hospiz angestellten Palliativpflegekräfte erbracht werden kann.
Ist es möglich, gleichzeitig eine aktive medizinische Therapie zu erhalten und trotzdem die SAPV in Anspruch zu nehmen?
Sie haben die schwierigste/umstrittenste Frage bis jetzt aufgehoben. Es gibt da mehrere Ebenen. Hat jeder Anspruch auf (spezialisierte) Palliativversorgung? Diese Frage wird sicherlich von allen bejaht. Das gilt gleichermaßen für eine Menschen mit einer akuten perforierten Appendicitis, einer Erstdiagnose einer akuten Leukämie, einer chronisch obstruktiven Lungenerkrankung oder einem Bronchialkarzinom im Verlaufe der symptomatischen Erkrankung. Alle diese Menschen haben schwere Leiden welche gelindert werden müssen, ganz unabhängig von der zugrunde liegenden Erkrankung. Es stellt sich nur die Frage, ob die in § 37b SGB V festgelegte spezialisierte ambulante Palliativversorgung mit dem Bundesrahmenvertrag und den darauf gründen regionalen Verträge die richtigen Leistungserbringer beschreiben. Bei der Appendicitis wird man sicherlich ohne an einen/ein Palliativmediziner/Palliativmedizinern zu denken, die Schmerzen, die Übelkeit und die Angst behandeln, die palliativen Aspekte dieser Behandlung werden von den Chirurgen und Anästhesisten gut mit abgedeckt. Bei der Erstdiagnose der akuten Leukämie ist eine spezialisierte Palliativversorgung im Sinne einer early integration nach Temel sinnvoll. Aufgrund der in der SAPV Richtlinie beschriebenen Leistungsvoraussetzungen, "weit fortgeschritten Erkrankung, sodass die Prognose sich auf Tage Wochen Monate verkürzt hat", wäre dies jedoch in der Regel ausgeschlossen. (Dies wäre übrigens für mich, neben der 3. Berufsgruppe, der wichtigste Punkt an welchem die SAPV Richtlinie geändert werden sollte). Hämatologen, welche auch eine palliative Ausbildung haben, werden auch hier die palliativen Aspekte bezüglich Schmerzen, Übelkeit und Verzweiflung abdecken.... Ich stellt sich mir die Frage, ab wann ein Palliativmedizinern/eine Palliativmedizinerin hinzugezogen werden soll. Bei onkologischen Patienten und Patientinnen denkt man sicher früher dran (wobei es sicherlich nicht ist so verstanden werden kann, dass die Palliativmedizin die Nebenwirkungen einer onkologischen Therapie behandeln sollte) bei einer chronisch obstruktive Lungenerkrankung denkt man in der Regel zu spät daran; weil der lebenslimitierende Charakter dieser Erkrankung oft verkannt/verdrängt wird. Die Palliativversorgung ist ein Querschnittsfach, bei allen leidenden Menschen muss sie zum Einsatz kommen. Alle Ärzte und Ärztinnen müssten hierin eine Ausbildung haben und in ihrem jeweiligen Fachgebiet die Notwendigkeit bei jedem einzelnen Patienten beurteilen und in der Regel auch selber einleiten und nur in spezifischen Fällen einen Spezialisten hinzuziehen. Wenn die Frage nun nicht mehr gestellt wird, ob man Anspruch auf (spezialisierte) Palliativversorgung hat sondern die Frage lautet, ob eine SAPV entsprechend der SAPV Richtlinie nach § 37b SGB V zum Einsatz kommen kann, muss in die SAPV Richtlinie gesehen werden. Und vorneweg: Nein, es gibt dort keinen Ausschluss für eine „gleichzeitige aktive medizinische Therapie“. In diesem Interview unter zweitens wurden die Kriterien aus der SAPV Richtlinie bereits beschrieben, die weit fortgeschrittene Erkrankung, die die Prognose auf Tage Wochen Monate begrenzt hat; der besondere Versorgungsaufwand der durch die Regelversorgung nicht geleistet werden kann und dass im Vordergrund der Versorgung der Erhalt der Lebensqualität und die psychosoziale Begleitung steht. Letzteres ist der Punkt welcher bei der Frage ob eine begleitende aktive Therapie möglich ist, betrachtet werden muss. Was ist das Ziel dieser begleitenden Therapie? Steht im Vordergrund die Lebensverlängerung, steht im Vordergrund die Bluttransfusion und Chemotherapie dem sich alles anderer unterordnen muss? Ist das eine Therapie, bei der eine Verschlechterung der Lebensqualität als Nebenwirkung der Behandlung bewusst in Kauf genommen wird? Oder wird diese aktive Therapie gemacht um die Lebensqualität jetzt zu steigern? Das muss im Einzelfall beantwortet werden und kann nicht pauschal beantwortet werden. Die Beurteilung im Einzelfall wird gegebenenfalls auch etwas unterschiedlich ausfallen. Manche SAPV-Teams sehen bei einer begleitenden aktiven Therapie früher den lebensverlängernden Aspekt im Vordergrund, manche später.
Welche besonderen Herausforderungen gibt es bei der Pflege in der ambulanten Palliativsituation?
Die besondere Herausforderung ist in der - Palliativsituation, dass man sich selbst mit Leben und Tod auseinandersetzen muss - in der ambulanten Versorgung, dass man in der Regel alleine beim Patienten/bei der Patientin ist, nicht schnell mal einen Kollegen oder eine Kollegin dazu ziehen kann, gegebenenfalls für den jetzigen Moment alleine eine Entscheidung treffen muss - Pflege, dass man oft nicht auf Augenhöhe behandelt wird, wobei dies im Bereich der Palliativversorgung, in meiner Wahrnehmung, besser wie in anderen Bereichen ist
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