Das Gesundheitssystem in Deutschland ist umfassend und komplex und stützt sich auf ein breites Netzwerk von medizinischen Einrichtungen und Fachkräften. Im Einzelnen beinhaltet es über 1.900 Krankenhäuser, circa 152.000 Ärzte, etwa 31.300 Psychotherapeuten und fast 18.800 Apotheken. Die finanzielle Belastung dieses Systems ist beträchtlich, wobei im Jahr 2020 über 440 Milliarden Euro ausgegeben wurden, was mehr als ein Zehntel des deutschen Bruttoinlandsprodukts darstellt.
Die Finanzierung des Gesundheitssystems erfolgt primär durch gesetzliche und private Krankenversicherungen. Die Wurzeln der gesetzlichen Krankenversicherung reichen bis ins Mittelalter zurück und wurden 1883 durch Otto von Bismarck formal etabliert. Seit 2007 ist die Mitgliedschaft in einer Krankenversicherung für alle Einwohner Deutschlands verpflichtend.
Das System basiert auf wichtigen Prinzipien wie der Versicherungspflicht, Beitragsfinanzierung und dem Solidaritätsprinzip, welches besagt, dass alle gesetzlich Versicherten die Kosten gemeinschaftlich tragen. Außerdem herrscht das Sachleistungsprinzip vor, nach dem Behandlungen direkt über die Krankenkassen abgerechnet werden, sowie das Selbstverwaltungsprinzip, das eine eigenständige Verwaltung des Gesundheitswesens durch seine Akteure vorsieht.
In seiner Struktur ist das deutsche Gesundheitssystem föderal organisiert, was bedeutet, dass die Bundesländer eigene Gesundheitsvorschriften erlassen können, wie während der Corona-Pandemie deutlich wurde. Global betrachtet, gehört Deutschlands System zu den Sozialversicherungssystemen, im Gegensatz zu staatlich organisierten Systemen wie in Großbritannien oder marktwirtschaftlich orientierten Systemen wie in den USA.
Experteninterview mit Univ.-Prof. Dr. Katrin Muehlfeld
Über Univ.-Prof. Dr. Katrin Muehlfeld:
Katrin Muehlfeld ist Professorin für Management, Organisation und Personal an der Universität Trier. In Forschung und Lehre befasst sie sich mit dem Entscheidungs- und Lernverhalten von Individuen und Gruppen, den Einflüssen von Kultur und Fremdsprache auf die Unternehmensorganisation und das Personalmanagement, nachhaltigkeitsbezogenen Herausforderungen und den Auswirkungen der Einführung von Robotik und künstlicher Intelligenz auf Organisationen, Arbeitnehmende und Arbeitskräfte der Zukunft – insbesondere Schüler:innen und Studierende. Katrin Muehlfeld veröffentlicht regelmäßig in führenden internationalen Fachzeitschriften wie z.B. Journal of Management, Journal of Economic Psychology und Computers in Human Behavior. Sie ist als Fachgutachterin für Fachzeitschriften, Konferenzen und Förderorganisationen tätig und seit 2023 Mitherausgeberin der Fachzeitschrift Academy of Management Learning & Education. Ihre Expertise ist auch bei Unternehmen und öffentlichen Organisationen u.a. im Rahmen von Praxisvorträgen zu ihren Themengebieten gefragt.
Frage: Können Sie beschreiben, welche Hauptfunktionen Pepper in Ihrer Forschung hat?
Robotik ist aus der Arbeitswelt der Zukunft nicht mehr wegzudenken. Deshalb forschen wir anhand von Pepper dazu, wie sich der Einsatz von Robotern auf die Rolle der Menschen in der Arbeitswelt auswirkt. Und: Um unsere Studierenden optimal auf den sich wandelnden Arbeitsmarkt der Zukunft vorzubereiten, binden wir Pepper auch in die Lehre ein. Pepper ist nun ein spezieller Roboter: ein humanoider, d.h. menschenähnlicher, Roboter, der speziell für die soziale Interaktion mit Menschen konzipiert wurde. Pepper kann u.a. auch menschliche Emotionen erkennen und darauf reagieren und selbst Interaktionen mit Menschen anstossen. Wir setzen Pepper zum einen in Anwendungstests und Feldexperimenten ein, um das Zusammenspiel von Mensch und Roboter in organisationalen Kontexten zu erforschen. Wie reagieren Mitarbeitende auf Kollege oder Kollegin „Pepper“? Was trägt zu Akzeptanz oder Ablehnung des Einsatzes von Pepper am Arbeitsplatz bei? Wie verändern sich Rollen von Mitarbeitenden? Wie können oder müssen Arbeitsprozesse gestaltet werden, sodass der Einsatz von Robotik-Technologie und, ganz konkret, Pepper, gelingt? Welche neuen Kompetenzen benötigen Mitarbeitende hierfür? Zum zweitennStichwort Kompetenzen: Wir haben ein Workshop-Programm entwickelt, mit dem wir jungen Menschen, Schülerinnen und Schülern, ebenso wie Studierenden, ermöglichen, einige eigene Programmierschritte mit Pepper zu unternehmen. Sie können Pepper „beibringen“ Witze zu erzählen oder Informationen zum Schulkiosk zu geben. In unserer Forschung schauen wir uns dann an, welche Wirkung die Teilnahme an diesen Workshops hat, ob sie z.B. das Interesse junger Menschen an einer technisch orientierten Arbeitstätigkeit weckt oder verstärkt. Pepper ist also ein (beispielhaftes) Instrument, um letztlich die menschliche Seite in einer Arbeitswelt zu erforschen, in die Roboter Einzug halten.
Wie reagieren Menschen typischerweise das erste Mal auf ihre Interaktion mit Pepper?
Die Reaktionen auf eine erste Begegnung mit Pepper sind sehr unterschiedlich. Sie hängen meiner Erfahrung nach u.a. davon ab, ob die Person schon einmal Kontakt zu Robotern hatte, wie alt sie ist, und in welchem Rahmen der Kontakt erfolgt (z.B. am Arbeitsplatz oder in einer spielerischen Situation). Auch die Erwartungen an die Interaktion spielen eine Rolle, etwa durch eine regelmäßige Benutzung von Sprachassistenten. Recht typisch ist aber eine Mischung aus Faszination und Neugier gepaart mit einer gewissen Skepsis bzw. Vorsicht. Bei Kindern folgt auf diese ambivalente erste Reaktion oft schnell Begeisterung und Freude am neuen Spielkameraden bzw. der Spielkameradin. Auch Erwachsene schließen Pepper oft danach regelrecht ins Herz und lassen Pepper z.B. Grüße ausrichten oder freuen sich, dass sie von Pepper immer freundlich begrüßt werden – was bei den menschlichen Kolleginnen und Kollegen ja auch schon einmal anders ausfallen kann. Aber es gibt auch ernüchterte Reaktionen, wenn z.B. deutlich wird, was Pepper dann eben nicht kann (z.B. Treppensteigen, Dialekt sprechen – es sei denn, es wurde vorher entsprechend einprogrammiert) und auch Ablehnung, besonders von denjenigen, die sich in ihrer Rolle am Arbeitsplatz bedroht fühlen oder sich von dieser neuen Technologie und ihrer Bedienung überfordert fühlen: Nicht selten brauchen Menschen eine Weile, bis sie für sich herausgefunden haben wie sie am besten mit Pepper interagieren können. Im Prinzip reagiert Pepper auf eine Mischung aus Sprachbefehlen, Gesten und Berührungen, in der Praxis dauert es aber oft etwas, bis die Interaktion flüssig verläuft. Das liegt z.B. daran, dass man ausreichend laut und aus relativ geringer Entfernung mit Pepper sprechen muss. Pepper quer durch den Saal etwas zuzurufen funktioniert also bspw. nicht.
Wie nutzen Sie Pepper, um die Interaktion zwischen Menschen und Maschinen zu erforschen?
Je nach Forschungszweck nutzen wir Pepper auf unterschiedliche Arten und Weisen. Wenn es um die Zusammenarbeit zwischen Robotern und Menschen in konkreten Arbeitsumfeldern geht, wird Pepper bspw. im Rahmen von Pilotexperimenten testweise in einer Organisation eingesetzt und wir begleiten diesen Test, und erheben vor, ggf. während, und nach dem Test Daten dazu, wie sich der Einsatz auf Arbeitsprozesse und Einstellungen der Mitarbeitenden auswirkt. Wenn es darum geht, wie sich die eigene Gestaltung von Robotik auf Selbstwirksamkeitserwartung oder Interesse an der Arbeit mit Technik auswirkt, besteht ein Großteil der Forschung aus der Anleitung der Teilnehmenden bei der Programmierung, der anschließenden Umsetzung der Programmierung auf Pepper, und der Untersuchung möglicher Einstellungsveränderungen (z.B. Interesse an der Arbeit mit neuen Technologien) durch diese Erfahrung. Wir nutzen Pepper also als Interaktionsobjekt in zweierlei Sinn: Zum einen durch eine „natürliche“ Interaktion von Menschen mit Pepper, zum anderen auch für einen Blick „hinter die Kulissen“ von Pepper.
Welche praktischen Anwendungen sehen Sie für Pepper in naher Zukunft?
Pepper ist ein humanoider Roboter mit Schwerpunkt auf der sozialen Interaktion. Das ist natürlich etwas grundlegend anderes als Industrieroboter, die zumeist wenig menschenähnlich aussehen, dafür aber hochspezifisch für bestimmte Fertigungstätigkeiten gestaltet sind, oder die auch aus privaten Haushalten bekannten Staubsauger- oder Rasenmäherroboter. Peppers Fähigkeit, mit Menschen zu interagieren, Emotionen zu erkennen und sprachliche Kommunikation anzustossen bzw. zu gestalten, sind deshalb entscheidend für diejenigen Bereiche, in denen in naher Zukunft voraussichtlich sinnvolle und kosteneffiziente Praxisanwendungen für Pepper entstehen werden bzw. in denen Pepper bereits genutzt wird. Durch sein Aussehen löst Pepper allerdings auch gewisse, oft positive Emotionen aus. Besonderes Potenzial für einen Einsatz von Pepper besteht in Situationen, in denen diese positiven Emotionen genutzt werden können. Beratung, Information und Kundenservice, z.B. in Bankfilialen, Geschäften, Einkaufszentren, in Rezeptionsbereichen von Hotels oder Unternehmen, oder auf Messen sind ein solcher Bereich. Gerne eingesetzt wird Pepper momentan bereits bei Werbeaktionen und Promotions, sozusagen als „Sonderattraktion“, die Interesse und Neugier weckt. Pepper begrüßt dann bspw. Besucherinnen und Besucher, präsentiert Angebote, oder unterhält die Gäste durch Musik, Gespräche, und Ähnliches. Ein weiteres Anwendungsfeld ergibt sich aus Peppers Fähigkeiten, als „Entertainer“, Gesprächspartner, oder auch „Animateur“ für leichte sportliche Aktivitäten aktiv zu werden. Das sind Fähigkeiten, die gerade auch im Gesundheitswesen und speziell in der Seniorenpflege Einsatz finden. Schließlich steht zu erwarten, dass sich das Spektrum an Fähigkeiten durch eine konsequente Kopplung mit Künstlicher Intelligenz und Kundenmanagementsystemen noch einmal deutlich ausweiten kann. Hierdurch würden insb. personalisierte Empfehlungen, ähnlich wie die, die durch Online-Shopping-Algorithmen generiert werden, möglich. Allerdings werfen solche Integrationen auch neue, komplexe Herausforderungen auf, z.B. hinsichtlich Datenschutz und Datensicherheit.
Welche Rolle könnte Pepper in medizinischen Einrichtungen wie Krankenhäusern spielen?
Für originär medizinische oder pflegerische Tätigkeiten wie das Durchführen von Behandlungen eignet sich Pepper nicht. Dafür wurde er nicht entworfen. Stattdessen ist ein Einsatz eher als ergänzende, interaktive Technologie denkbar. Es ist prinzipiell denkbar, dass Pepper in medizinischen Einrichtungen wie Krankenhäusern, Pflege- oder Seniorenheimen verschiedene unterstützende Rollen übernehmen könnte, und dabei mit Pflegepersonal, Verwaltungsmitarbeitenden, Patientinnen und Patienten, und Gästen in Kontakt wäre. Pepper könnte z.B. Informationen anbieten wie Wegbeschreibungen zur Orientierung innerhalb eines Krankenhauses. Besonders in Kinderstationen könnte Pepper als Unterhaltung dienen, indem Pepper Spiele wie z.B. Tic-Tac-Toe mit den jungen Patientinnen und Patienten spielt, Witze erzählt oder Geschichten „vorliest“. Es gibt auch erste Erkenntnisse, dass soziale Roboter wie Pepper im Gespräch mit Kindern das „Eis brechen können“ und so einen Zugang für das weitere, menschliche Gespräch schaffen. Bei Patienten mit kognitiven Beeinträchtigungen könnte Pepper bspw. einfache Gedächtnisübungen oder kognitive Spiele anbieten, um den Therapieprozess zu unterstützen. Pepper könnte als Vermittler für Videogespräche zwischen Patientinnen und Patienten einerseits und ihren Familien oder Ärzten dienen, besonders in Situationen, in denen der persönliche Kontakt eingeschränkt ist. Pepper könnte auf Hygieneprotokolle hinweisen, wie z.B. das Tragen von Masken oder das Desinfizieren der Hände. Pepper kann bspw. auch erkennen, ob eine Person eine Maske trägt oder nicht, und bei Bedarf entsprechend reagieren. Technisch gesehen könnte Pepper auch zur Aufklärung über Behandlungsverfahren oder Gesundheitsvorsorge beitragen. Das könnte über das Tablet auf Peppers Brust, in Form von interaktiven Gesprächen oder auch Videos geschehen. Allerdings ist bei all dem auch immer die rechtliche Seite zu bedenken. Und: nur weil ein Einsatz technisch möglich ist, heißt das noch lange nicht, dass er auch finanziell lohnt. Pepper muss programmiert und gewartet werden, und hierfür können durchaus je nach Anwendungszweck höhere Kosten entstehen, als für menschliche Arbeitskräfte.
Experteninterview mit Thomas Altgeld
Über Thomas Altgeld:
Thomas Altgeld ist Diplom-Psychologe und seit 1993 Geschäftsführer der Landesvereinigung für Gesundheit und Akademie für Sozialmedizin Niedersachsen Bremen e.V. (LVG & AFS). Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören die Themen Männergesundheit, Gesundheitsförderung und Prävention in Lebenswelten, Gesundheitliche Chancengleichheit, Health in all Policies sowie systemische Organisationsentwicklung und -beratung.
Er ist unter anderem Vorstandsvorsitzender des Bundesforum Männer – Interessenverband für Jungen, Männer und Väter e. V., Vorsitzender des Ausschusses des Kooperationsverbundes
Was versteht man unter Achtsamkeit in Bezug auf die Lebensführung von Männern?
Achtsamkeit ist ja erst mal ein Modebegriff, unter dem gerade viel gelabelt wird. Er bezeichnet an sich einen Wahrnehmungs- und Bewusstseinszustand, in dem man(n) ganz im Hier und Jetzt ist und bewusst wahrnimmt, was um einen herum und in einem drinnen passiert, ohne dass man sich ablenken lässt von Gedanken, starken Gefühlen oder Erinnerungen. Das ist natürlich kein Dauerzustand – wenn man nicht in einem Kloster lebt – eher eine tägliche Routine oder Herausforderung abzuschalten, ganz bei sich zu sein und einfach wahrzunehmen. Achtsamkeit kann man trainieren wie einen Muskel. Das fällt nicht leicht, aber je öfter, regelmäßiger und intensiver man dranbleibt, desto selbstverständlicher und nachhaltiger wird es.
Wie kann Achtsamkeit konkret dazu beitragen, dass Männer länger leben?
Männer, die auf sich achten und nicht entlang klassischer männlicher Rollenerwartungen verdrängen und ausblenden, haben größere Chancen, ein erfülltes Leben zu führen. „Wellbeing“ ist der Terminus technicus der Weltgesundheitsorganisation dazu. Und natürlich erkennt man, wenn man regelmäßig in sich hineinhört, frühzeitig auch Körpersymptome, die auf Krankheiten deuten können und nimmt seinen Körper ernster. Achtsame Männer behandeln ihn nicht wie geschenktes Verbrauchsmaterial, mit dem es irgendwann ohnehin bergab geht, sondern als Teil des Selbst, der gepflegt werden muss. Mit diesem Bewusstsein lässt sich die um fünf Jahre kürzere Lebenserwartung von Männern gegenüber Frauen sicherlich erhöhen. Dazu müssen wir aber auch gesellschaftliche Rollenbilder des stets “einsatzbereiten” Mannes verändern: Es ist hinlänglich bekannt, dass ein traditionell “männlicher Lebensstil” häufig mit Risikoverhalten und geringer Achtsamkeit einhergeht: Im Geschlechtervergleich stehen Rauchen, Alkohol, Unfall- und Gewaltrisiken einer geringeren Selbstsorge gegenüber; Männer gehen seltener zur Ärztin oder zum Psychotherapeuten, sie suizidieren sich dreimal so häufig wie Frauen. Selbstsorge und Achtsamkeit wären hier sicher gute Präventionsmechanismen.
Welche alltäglichen Achtsamkeitsübungen empfehlen Sie Männern für ein längeres Leben?
Natürlich gibt es in buddhistischen oder anderen spirituellen Kontexten Übungen, Techniken oder Rituale, die auf Achtsamkeit zielen: Yoga zum Beispiel. Aber man muss keinen Yogakurs besuchen, um Achtsamkeit zu lernen. Es gibt bei YouTube jede Menge einfach Anleitungen, aber im Prinzip braucht es die nicht mal unbedingt. Die erlernbare Kunst besteht darin, seinen Aufmerksamkeitsfokus temporär nach innen zu richten, in sich hinein zu lauschen und seine Umgebung ohne große Einordnungen und Bewertungen wahrzunehmen. Sich dafür jeden Tag Zeit zu nehmen, Routinen zu entwickeln und feste Zeiten etwa morgens oder abends oder mittendrin zu finden, ist für viele Männer im Alltag die eigentliche Herausforderung.
Welche spezifischen Gesundheitsrisiken bei Männern können durch Achtsamkeit reduziert werden?
Dazu ist die Forschungslage leider ziemlich schlecht. Achtsamkeit ist nicht unmittelbar präventiv für eine Erkrankung xy, z.B. Demenz oder Krebs, sondern führt dazu, dass der Körper und seine Verfasstheit, seine wechselnden Zustände und Bedürfnisse ernst genommen werden. In Bezug auf viele Gesundheitsrisiken hat das zumindest den Effekt, dass man(n) sich frühzeitig kümmert, dass man(n) sich pflegt.
Gibt es Unterschiede im Nutzen von Achtsamkeit zwischen verschiedenen Altersgruppen von Männern?
Nicht im Nutzen – es ist nie zu spät, Achtsamkeit zu lernen, das geht auch im hohen Alter – eher in der Akzeptanz. Jüngere Generationen sind aufgeschlossener schon allein dem Begriff gegenüber, während klassisch sozialisierte Männer meiner Generation die Augenbrauen hochziehen und sich drüber lustig machen, statt die Potenziale und den Gewinn für sich darin zu sehen. Es sind also nicht zuletzt klassische Einstellungsmuster und Männlichkeitsstereotype, die uns da selbst im Weg stehen. Deshalb plädiere ich für eine nationale Männergesundheitsstrategie, die Jungen und Männer dezidiert in den Blick nimmt. Ein geschlechtersensibler Blick auf Gesundheit und Krankheit bedeutet, dass nicht nur körperliche und organische Faktoren Berücksichtigung finden müssen, sondern auch soziale. Das klingt banal, scheint aber noch nicht bis in den politischen Raum durchgedrungen zu sein.
Experteninterview mit Thomas Grosser
Über Thomas Grosser:
Thomas Grosser hat Sinologie und Ökonomik in Münster und Taibei studiert. Seit seinem Masterabschluss im Sommer 2023 organisiert er als Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Institut für Sinologie in Münster promotionsbegleitend das Projekt „Jugend Trifft China“. Sowohl in der historischen Forschung als auch im Unterricht gilt seine Leidenschaft der Chinesischen Sprache, der klassischen sowie der modernen. Er ist überzeugt davon, dass Sprachunterricht langfristig einen wesentlichen Beitrag zum internationalen Austausch leistet.
Wie sehen Sie die Rolle der deutsch-chinesischen Zusammenarbeit im Bildungsbereich?
Politische Entwicklungen der letzten Jahre erschweren deutsch-chinesische Zusammenarbeit teilweise, auch im Bildungsbereich. Die Notwendigkeit, Menschen auszubilden, die Chinas Kultur, Sprache und Gesellschaft verstehen, ist indes nur noch gewachsen. Es ist deshalb unablässig, dass wir Bildungsangebote schaffen, die ein differenziertes Chinabild fördern, das weder in plakativer und klischeehafter Weise Angst schürt noch Selbstzensur betreibt und reale Probleme verschweigt. Für die differenzierte Auseinandersetzung mit China (und auch Taiwan) sind Sprachkenntnisse und Austausch indes wichtige Grundbausteine. Hier ist Zusammenarbeit mit China unablässig.
Was war die Inspiration für die Gründung der China-AG?
Seit 2016 betont die Bundesregierung immer wieder, dass Deutschland mehr „China-Kompetenz“ brauche. Als sinologisches Institut liegt uns viel daran, dass im Zuge dieser Initiative ein differenziertes und vielschichtiges Chinabild vermittelt wird, wie auch unsere Institutsdirektorin Prof. Dr. Storm immer wieder betont. Grundsätzlich versuchen wir deshalb, unsere Reichweite etwas zu erweitern, innerhalb der Universität etwa durch die Gründung eines Asienzentrums und das Angebot eines „Greater China Zertifikats“ für Studierende aller Studiengänge, aber wir blicken eben auch auf Schulen. Deshalb haben wir uns auf die Förderlinie „Campus trifft Schule“ des 2020 gegründeten Bildungsnetzwerk China beworben, in der auch an anderen Universitäten vergleichbare Projekte gefördert werden. Ich persönlich finde es sehr wichtig, schon in Schulen mehr Wissen über China zu vermitteln. Es ist bedauerlich, wie wenig man im regulären Lehrplan über China lernt. Auch Zusatzangebote wie China-AGs, Austausche und außerschulische Bildungsangebote sind rar und in der Regel nur einer kleinen Elite von Schüler:innen zugänglich. Kommt man erst im Erwachsenenalter in Kontakt mit China, ist es dann schwieriger, fehlendes Basiswissen aufzuholen und sich auf die fremde Kultur und Sprache einzulassen.
Welche Rolle spielt das Goethe-Institut und die Mercator-Stiftung in diesem Projekt?
Indirekt spielen sie eine sehr große Rolle, nämlich über das Bildungsnetzwerk China, dessen Förderung unser Projekt möglich macht. Das Bildungsnetzwerk ist seinerseits von der Stiftung Mercator und dem Goethe-Institut gegründet worden und durch diese finanziert. Mit dem Bildungsnetzwerk China arbeite ich in Form von Netzwerktreffen, Fortbildungen und regelmäßigem Austausch eng zusammen. Bei der Durchführung der China-AGs gibt das Bildungsnetzwerk den Pilot-Projekten von „Campus trifft Schule“ einen großen Gestaltungsspielraum – man könnte neben einer auf Spracherwerb fokussierten AG beispielsweise auch versuchen, China als Thema in den Fachunterricht zu bringen. Für uns als sinologisches Institut ist die Arbeit mit Schulen ein unbekanntes Gewässer, bei dem wir sehr dankbar für die Flexibilität und die fachkundige Unterstützung sind, die das Bildungsnetzwerk China uns bietet.
Welche langfristigen Chancen erwarten Sie von der China-AG für die Schülerinnen und Schüler?
Möchte man im späteren Leben etwa an der Uni Chinesisch lernen, in China ein Praktikum machen oder auch nur beruflich mit China zusammenarbeiten, ist der Vorsprung durchs Schnuppern in der China-AG ein wichtiger Vorteil, der es später erleichtert, sich auf die fremde Kultur und Sprache einzulassen. Mit Chinas wachsender Bedeutung auf der Welt ist es schließlich immer wahrscheinlicher, dass man irgendwann im Leben etwas mit China zu tun hat – in vielen Bereichen kommt man an China nicht mehr vorbei. Aber auch darüber hinaus ist der Kontakt mit einer fremden Kultur und Sprache immer in vielerlei Hinsicht wertvoll. Selbst, wenn jemand später nie wieder etwas Chinabezogenes macht, ist das Kennenlernen einer Sprache, die in Vokabular, Grammatik, Aussprache und Schriftsystem so anders ist als die in Europa gesprochenen, für das allgemeine Verständnis von Sprachen unglaublich bildend. Das Kennenlernen einer fremden Kultur erweitert immer den eigenen Horizont. Gemessen an dem recht kleinen, zwanglosen und kostenlosen Investment eines AG-Besuchs hoffe ich, dass wir hier ein sehr lohnendes Angebot geschaffen haben – insbesondere für Schüler*Innen, die Lust haben, über den sprichwörtlichen Tellerrand Europas hinauszuschauen.
Wie kann die China-AG dazu beitragen, interkulturelle Kompetenzen bei den Schülerinnen und Schülern zu fördern?
In unseren China-AGs werde ich als AG-Leitung von unserer wechselnden, aus Taiwan stammenden Sprachassistent*In begleitet, die/der in der Regel kein Deutsch spricht, sodass interkultureller Kontakt und Kommunikation schon im AG-Alltag geübt werden. Ich bin zudem überzeugt davon, dass schon Sprachkenntnisse auf Anfängerniveau, wie sie in der AG vermittelt werden, die interkulturelle Kompetenz sehr fördern. Zudem wird die AG durch ein Kulturprogramm erweitert, das etwa das Feiern des chinesischen Neujahrsfests am sinologischen Institut umfasst. So versuchen wir, immersiv Kenntnisse über chinesische Sitten und Gebräuche zu vermitteln, was in der interkulturellen Praxis immer förderlich ist. Gerade in Zeiten, in denen antiasiatischer Rassismus ein immer größeres Problem wird (siehe etwa den kürzlich veröffentlichten Report zu antiasiatischem Rassismus des DeZIM), ist diese Ausbildung von interkulturellen Kompetenzen von großer Bedeutung.
Können bis jetzt noch nicht involvierte Schüler:innen und Schulen mit Ihnen zur Implementierung einer China-AG in Kontakt treten?
Ja! Wir würden uns freuen. Für den nächsten Förderzeitraum ist eine Erweiterung des Projekts auf weitere Schulen im Münsterland angedacht. Bei der Wahl der Schule ist es für uns wichtig, dass die Schule aktiv hinter dem Projekt steht und auch aus eigenem Antrieb das Thema China mehr in den Fokus der Bildung nehmen möchte. Mit einer interessierten Schule verläuft die Zusammenarbeit reibungsloser und es bieten sich mehr Möglichkeiten für einen langfristigen Ausbau des chinabezogenen Bildungsangebots der Schule. Deshalb würden wir gerade Initiativen seitens einer Schule also sogar sehr begrüßen. Für Anfragen aller Art bin ich unter [email protected] gerne erreichbar! Jugend trifft China (https://www.uni-muenster.de/Sinologie/transfer/china-ag.html)
Experteninterview mit Prof. Heiner Heimes
Über Prof. Heiner Heimes:
Professor Heiner Heimes studierte von 2004 bis 2009 Maschinenbau mit dem Schwerpunkt Fertigungstechnik an der RWTH Aachen, wo er von 2007 bis 2010 auch ein Studium der Wirtschaftswissenschaften absolvierte. Die Zeit von 2010 bis 2014 verbrachte er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Werkzeugmaschinenlabor (WZL) der RWTH Aachen, die 2014 in seine Promotion mündete. Von 2015 bis 2019 war Heimes Oberingenieur des neu gegründeten Lehrstuhls „Production Engineering of E-Mobility Components“ (PEM). Von 2019 bis 2023 hatte Heimes am Lehrstuhl PEM die Rolle des Geschäftsführenden Oberingenieurs inne, bevor er im März 2023 zum außerplanmäßigen Professor mit dem Schwerpunkt „Produktionstechnik für Lithum-Ionen-Batterien“ ernannt wurde. Gemeinsam mit Professor Achim Kampker ist er für die strategische und operative Führung des Lehrstuhls PEM zuständig.
Welche methodischen Ansätze haben Sie bei der Erstellung des „Battery Atlas 2024“ verwendet?
Für den neuen „Battery Atlas“ haben wir eine mehrstufige Methodik angewendet, die quantitative und qualitative Ansätze miteinander verknüpft. Grundlage war eine umfassende Literaturrecherche, mit der wir präzise erfasst haben, wie der aktuelle Stand bezüglich offizieller Ankündigungen von OEMs, Markt-Trends und technologischer Fortschritte aussieht. Außerdem haben wir Experten-Interviews mit führenden Branchenakteuren, mit bekannten Forschungseinrichtungen und im eigenen Universitätsnetzwerk geführt, durch die wir wertvolle qualitative Einblicke gewonnen haben. Diese ganzheitliche Herangehensweise ermöglicht die detaillierte und praxisnahe Darstellung des Status quo, aber auch künftiger Trends in der Batterie-Branche.
Können Sie die Rolle und Bedeutung der Marktteilnehmer für Batteriequalitätssicherung genauer erläutern?
Batterieproduzenten sind heute mehr als je zuvor auf fortschrittliche Prüftechniken und moderne Qualitätsmanagementsysteme angewiesen, um die Leistungsfähigkeit und die Sicherheit der Akkus zu garantieren. Nur so können sie den steigenden Ansprüchen an Zuverlässigkeit und Qualität gerecht werden, die in den zahlreichen Anwendungsbereichen – von Elektrofahrzeugen bis hin zu stationären Energie-Großspeichern – gefordert sind. Diese Maßnahmen sind entscheidend dafür, die Marktfähigkeit der Produkte zu gewährleisten und das Vertrauen der Kunden in die zugrunde liegenden Technologien zu stärken. Daher sind Qualitätssicherungsanbieter inzwischen zentrale Teilnehmer auf dem Batteriemarkt geworden.
Welche Kriterien haben Sie für die Einbeziehung der „Second Life“-Anwendungen von Batterien definiert?
„Second Life“-Szenarien liegt ein Konzept zugrunde, das in den vergangenen Jahren immer wichtiger geworden ist. Auch die neue EU-Batterieverordnung hat für viel Klarheit in diesem Bereich gesorgt. Gleichzeitig gehen die Expertenmeinungen darüber auseinander, welche Kriterien erfüllt sein müssen, damit sich eine Weiterverwendung gebrauchter Batterien ökonomisch realisieren lässt. Zu diesen Aspekten zählen die Kosten für gealterte und auch für neue Batteriesysteme, wobei der individuelle Zustand der Rückläuferbatterien einbezogen werden muss. Dazu gehören die verbleibende Kapazität und andere Zustandsindikatoren, die während der Diagnose bewertet werden müssen.
Welche technologischen Entwicklungen haben den größten Einfluss auf den neuen Atlas gehabt?
Mit insgesamt neun betrachteten Marktbereichen deckt der 2024er „Battery Atlas“ einen Großteil des Gesamtlebenszyklus von Batterien und den technologischen Bereichen ab. Eine zentrale Erkenntnis der aktualisierten Untersuchung ist, dass Europa trotz hoher Energiekosten ein zentraler Markt bleibt, auf dem sich neben Deutschland auch Ungarn zu einem wichtigen Akteur der Batterieproduktion entwickelt. Mit steigenden Kapazitäten in der Zellfertigung eröffnen sich neue technologische Möglichkeiten in der Modul- und Packproduktion sowohl für den Automobilsektor als auch für den wachsenden Bereich der stationären Energiespeicher. Das wiederum hat bereits zu einer stärkeren Ansiedlung von Maschinen- und Anlagenbauern in Europa geführt.
Wie schätzen Sie die Entwicklung des ungarischen im Vergleich zum deutschen Batteriemarkt ein?
Der Batteriemarkt in Ungarn hat durch umfangreiche Investitionen in Produktionskapazitäten und die Ansiedlung internationaler Batteriehersteller ein starkes Wachstum erlebt. Im Vergleich dazu ist der Markt in Deutschland stärker durch intensive Forschung und Entwicklung sowie die Integration von Batterien in unterschiedliche industrielle Anwendungen geprägt. Deutschland profitiert von einem gut entwickelten Innovations-Ökosystem und einer starken Automobilindustrie, die den Einsatz von Batterietechnologien vorantreibt. Ungarn nutzt hingegen wettbewerbsfähige Produktionsbedingungen dafür, sich als bedeutender Fertigungsstandort zu etablieren. Eine Gemeinsamkeit besteht darin, dass beide Märkte ein starkes Engagement in Richtung Nachhaltigkeit und technologischen Fortschritts an den Tag legen.
Wie bewerten Sie die Bedeutung von Recycling-Unternehmen für die Nachhaltigkeit des Batteriemarktes?
Die Nachhaltigkeit nicht nur der Elektromobilität steht und fällt mit der Antwort auf die Frage, wie sich die Masse der früher oder später ausgedienten Batterien in eine Kreislaufwirtschaft überführen lassen. Recycling-Unternehmen sind also unerlässlich für die ökonomische und ökologische Nachhaltigkeit des Batteriemarktes, da sie die Wiedergewinnung wertvoller Rohstoffe ermöglichen und damit den Bedarf neu abzubauender Materialien reduzieren. Effektive Recycling-Prozesse erlauben die Rückgewinnung kritischer Materialien wie Lithium, Kobalt und Nickel, die sich aus Altbatterien in den Produktionskreislauf zurückführen lassen. In der Folge werden natürliche Ressourcen geschont und Umweltbelastungen verringert, die durch Abfall und Abbauprozesse entstehen. Recycling-Unternehmen fördern die Entwicklung dringend notwendiger geschlossener Kreislaufsysteme.
Welche Gesundheitsrisiken bestehen bei der Produktion von Lithium-Ionen-Batterien, und wie lassen sie sich minimieren?
Dazu zählen vor allem die Exposition gegenüber toxischen Chemikalien wie Lithium, Kobalt und Elektrolyten sowie Gefahren durch Feinstaub und Lösungsmittel. Diese Risiken lassen sich durch strenge Arbeitsschutzmaßnahmen, den Einsatz persönlicher Schutzausrüstung und fortschrittliche Lüftungs- und Filtertechnologien allerdings deutlich minimieren. Regelmäßige Schulungen der Belegschaft und die strikte Einhaltung von Sicherheitsprotokollen sind ebenfalls entscheidend. Darüber hinaus wird an Konzepten gearbeitet, die sich mit der Automatisierung und dem Einsatz von Robotik in gefährlichen Produktionsschritten befassen. Sie können die Exposition gegenüber gesundheitsschädlichen Stoffen noch weiter verringern, was die Sicherheit am Arbeitsplatz erheblich erhöht.
Experteninterview mit Univ.-Prof. Dr. med. Thomas Kohnen
Über Univ.-Prof. Dr. med. Thomas Kohnen:
Univ.-Prof. Dr. med. Thomas Kohnen ist Direktor der Klinik für Augenheilkunde am Universitätsklinikum Frankfurt. Er war 2016/2017 Präsident, ist zurzeit Schatzmeister der DOG (Deutsche Ophthalmologische Gesellschaft), war von 2008 bis 2012 Präsident sowie von 2012 bis 2016 Vizepräsident der DGII (Deutschsprachige Gesellschaft für Intraokularlinsenimplantation), von 2013 bis 2022 Präsident der Vereinigung Rhein-Mainischer Augenärzte und von 2020 bis 2022 Präsident des IIIC (International Intraocular Implant Club). Des Weiteren ist er Vorsitzender der KRC (Kommission für Refraktive Chirurgie von DOG und BVA) und Editor des Journal of Cataract and Refractive Surgery. Er erhielt Auszeichnungen wie den Leonhard Klein-Preis der DOG (1996), Kiewit de Jonge Award (2000), Forschungs- und Förderpreis der DOG und Honour Award (AAO 2009), die Gold Medal Lecture 2018 der AUSCRS (Australasian Society of Cataract and Refractive Surgeons), den Life Achievement Honor Award 2019 der AAO (American Academy of Ophthalmology), den DGII Wissenschaftspreis 2022, den Kritzinger Safari Award 2022 der SASCRS (Southern African Society of Cataract and Refractive Surgery) und 2024 hielt er die Haigis-Lecture im Intraocular Power Club (IPC).
Frage: Welche ersten klinischen Erfahrungen haben Sie mit der PanOptix IOL gemacht?
Insgesamt setzen wir die PanOptix-Linse seit dem 03.07.2015 (erste Implantation weltweit) in Frankfurt ein. Mit der Überführung des AcrySof Material in das Clareon Material haben wir inzwischen sehr gute Erfahrungen gemacht, schon unsere monofokalen Clareon-Patienten zeigten sehr gute Ergebnisse ohne Langzeit-Glistenings. In unserer ersten PanOptix-Studie, die inzwischen 12 Monate Follow-up hat, zeigten sich keine Veränderungen im Linsenmaterial, wie das evtl. mit dem AcrySof Material teilweise noch vorkam. In der Studie konnten wir auch im historischen Vergleich sehen, dass die Kontrastdaten insgesamt besser sind als mit dem alten Material.
Wie bewerten Sie die Sehqualität nach der Implantation der PanOptix IOL im Vergleich zu traditionellen IOLs?
Genau dieser Punkt wird durch den besseren Kontrast angesprochen. Die Visusergebnisse sind sowohl in Ferne, Intermediär und Nahbereich äquivalent, wenn nicht besser. Hier wäre eine prospektiv randomisierte kontralaterale Studie natürlich hilfreich, allerdings sind inzwischen die Ergebnisse so gut, dass wir unsere komplette Implantationstechnologie auf das Clareon Material bei der PanOptix-Technologie umgestellt haben.
Wie sehen die Langzeitprognosen für Patienten aus, die mit der PanOptix IOL behandelt wurden?
Ich erwarte, dass die typische Problematik bei dem AcrySof Material, die evtl. zu Glistenings führen kann, mit dem neuen Clareon Material gerade bei einer multifokalen Optik nicht mehr auftreten wird.
Welche neuen Entwicklungen in der Behandlung von Makuladegeneration finden Sie besonders vielversprechend?
Für mich als aktiven Behandler im Bereich der Makula sind Präparate, die insgesamt mit höheren Konzentrationen intravitreal gespritzt werden können, eine Erneuerung, die Patienten und Operateur bei niedriger Spritzrequenz entlastet. Die neuen Bio Similars, die inzwischen eingesetzt werden, könnten sich auf den hohen Kostendruck in der pharmakologischen Behandlung der AMD positiv auswirken.
Wie beeinflusst künstliche Intelligenz die Augenheilkunde, insbesondere bei Diagnose und Behandlung?
Die KI in der Augenheilkunde wird eine große Rolle spielen, sowohl im Hinterabschnitt bei Befunden im Makula- als auch im Papillensektor sieht man jetzt schon gute Möglichkeiten, durch KI Veränderungen genauer zu diagnostizieren als das mit dem Arztauge oder mit dem Vergleich von Aufnahmen der Fall war. Auch im vorderen Augenabschnitt spielt inzwischen (Beispiel Keratokonus) die KI durch Einsatz bei Scheimpflug oder OCT eine immer größere Rolle. Ich erwarte insgesamt gerade im Bereich von Diagnostik und damit auch zwangsläufig bei der Behandlung eine Verbesserung der Patientenversorgung durch KI. Auch bei Registries wird die KI wichtiger werden und den Weg in die Zukunft weisen.
Experteninterview mit Dr. med. Peter von Philipsborn
Über Dr. med. Peter von Philipsborn:
Dr. Peter von Philipsborn ist der Leiter des Public Health Nutrition Teams und der BMBF-Nachwuchsgruppe Planetary Health Nutrition. Mit einem beeindruckenden akademischen Hintergrund in Medizin sowie in Politik-, Wirtschafts- und Rechtswissenschaften widmet sich Dr. Pilipsborn leidenschaftlich der Schnittstelle zwischen Wissenschaft, Praxis und Politik. Sein Ziel ist es, durch politische Maßnahmen eine gesunde und nachhaltige Ernährung zu fördern, wobei er besonderen Wert auf interdisziplinäre Zusammenarbeit und gesellschaftlich relevante Forschung legt, die das Leben der Menschen direkt beeinflusst.
Unter seiner Leitung werden mehrere innovative Projekte durchgeführt, darunter YAHEE, das sich auf gesundheitsfördernde Umgebungen für junge Erwachsene konzentriert, MensaPlus, das Nachhaltigkeit und Partizipation in Mensen fördert, und Food-PlanetH, das Ernährungsumgebungen im Kontext der planetaren Gesundheit untersucht.
Darüber hinaus ist er als Co-PI an dem Projekt FoodSAMSA beteiligt, das sich mit Ernährungsumgebungen in Afrika befasst, und leitet die Münchner Beteiligung am internationalen Netzwerk INFORMAS.
Neben seiner Forschungstätigkeit engagiert er sich stark in der Lehre und bietet Kurse zu Public Health Nutrition und evidenzbasierter Medizin an. Seine wissenschaftliche Exzellenz wird durch zahlreiche Publikationen, Preise und seine aktive Rolle in verschiedenen wissenschaftlichen und öffentlichen Gesundheitsorganisationen unterstrichen.
Wir sind stolz darauf, einen so engagierten und einflussreichen Wissenschaftler in unserer Community zu haben, dessen Arbeit einen wesentlichen Beitrag zur Förderung der öffentlichen Gesundheit und zur Bewältigung globaler Ernährungsherausforderungen leistet.
Wie würden Sie den Prozess des Benchmarkings im Kontext der Bewertung von Ernährungspolitiken erklären und welche Rolle spielt der Food Environment Policy Index (Food-EPI) dabei?
Allgemein ausgedrückt geht es beim Benchmarking um eine vergleichende Bewertung, um auf diesen Wege Verbesserungspotential zu identifizieren. Unternehmen nutzen Benchmarking-Techniken um ihre Produkte oder Dienstleistungen zu optimieren. Man kann Benchmarking aber auch in anderen Bereichen einsetzen, wie z.B. der Gesundheits- und Ernährungspolitik – ein Beispiel hierfür ist der Food Environment Policy Index (Food-EPI). Der Food-EPI ist ein methodisches Rahmenwerk, um die ernährungspolitischen Rahmenbedingungen in einem gegebenen Land strukturiert und systematisch zu erfassen, mit internationalen Best Practices zu vergleichen, und Politikempfehlungen abzuleiten. Das Benchmarking ist in diesem Kontext der Abgleich des Status Quo in einem Land mit dem, was in anderen Ländern schon erreicht wurde – den internationalen Best Practices. Mit der Anwendung des Food-EPI in Deutschland konnten wir zeigen, dass Deutschland in einigen Bereichen der Ernährungspolitik schon ganz gut dasteht – so zum Beispiel bei der Ableitung von wissenschaftlich fundierten Ernährungsempfehlungen durch die deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE). In anderen Bereichen gibt es aber viel Nachholbedarf, wie z.B. bei der Verbesserung der Kita- und Schulverpflegung – hier gibt es zwar Standards und Empfehlungen, aber es hakt an der Umsetzung. Auch bei der Lebensmittelbesteuerung und der Regulierung von an Kinder gerichteter Lebensmittelwerbung gibt es Nachholbedarf.
Inwiefern können internationale bewährte Verfahren in diesen beiden Politikbereichen in Deutschland genutzt werden?
Über 50 Länder weltweit haben Steuern auf zuckerhaltige Softdrinks eingeführt. Hier zeigen die internationalen Erfahrungen klar, dass dies ein wirksamer Ansatz ist, um den Konsum von Softdrinks mit seinen negativen gesundheitlichen Folgen zu begrenzen. Wenn die Einnahmen aus der Steuer für die Gesundheitsförderung verwendet werden – wie z.B. eine Verbesserung der Kita- und Schulverpflegung – dann kann ein zusätzlicher Nutzen für die Gesundheit erzielt werden. Auch eine Steuerbefreiung auf gesunde Lebensmittel, wie Obst, Gemüse, Hülsenfrüchte und Vollkornprodukte, wird in einigen Ländern wie z.B. Belgien diskutiert. Hiermit gibt es noch weniger praktische Erfahrungen, aber auch dies ist ein vielversprechender Ansatz. Regulierung von Lebensmittelmarketing ist ein weiterer wichtiger Handlungsbereich. Die wissenschaftliche Evidenz ist klar und überzeugend: Werbung für Süßwaren, Softdrinks und Co. beeinflusst die Ernährungsgewohnheiten von Kindern negativ, und erhöht das Risiko für Übergewicht und Adipositas. Die diversen freiwilligen Selbstverpflichtungen der Lebensmittel- und Werbeindustrie haben sich in diesem Zusammenhang in Deutschland und international als praktisch wirkungslos erwiesen. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfiehlt daher, dass Kinder durch verbindliche gesetzliche Regelungen vor dem schädlichen Einfluss solcher Werbung geschützt werden sollten. Ein Land, dass diese Empfehlungen umgesetzt hat, ist Chile – dort wurde an Kinder gerichtete Werbung für Produkte mit einem erhöhten Zucker-, Salz- und Fettgehalt 2016 stark beschränkt. In der Folge konnte man positive Effekte auf das Ernährungsverhalten beobachten. Selbiges gilt für London, wo 2019 entsprechende Regelungen für alle Werbeflächen im öffentlichen Personennahverkehr eingeführt wurden. In Deutschland hat das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft im Februar 2023 Pläne für ein Kinder-Lebensmittel-Werbegesetz angekündigt. Der Gesetzesentwurf sieht vor, dass nur noch Lebensmittel gegenüber Kindern beworben werden dürfen, die bestimmte Nährwertkriterien erfüllen, orientiert am sog. WHO-Nährwertprofilmodell. Von Fachleuten wurde die Initiative sehr positiv aufgenommen. Wir haben das geplante Gesetz in einer Pilotstudie untersucht, und kommen zu dem Schluss, dass es sich weitgehend an internationalen Empfehlungen orientiert, und geeignet ist, Kinder zielgerichtet vor Werbung für weniger gesunde Produkte zu schützen, mit einem gewissen Optimierungspotential im Detail.
Wie sehen Sie die Rolle von Ernährungskennzeichnungssystemen wie Nutri-Score bei der Förderung gesunder Ernährungsgewohnheiten?
Lebensmittel-Label wie der Nutri-Score können es für KonsumentInnen einfacher machen, gesündere Produkte zu wählen, und Lebensmittelunternehmen einen Anreiz geben, gesündere Produkte zu entwickeln, herzustellen und anzubieten. Label sind damit ein Baustein in einer umfassenden Strategie für die Förderung einer gesünderen Ernährung. Sie sind ein Teil der Lösung – aber eben nur ein Teil.
Welche Rolle spielt die Lebensmittelindustrie bei der Umsetzung von Ernährungspolitiken, insbesondere im Hinblick auf die Identifizierung und Umsetzung gesünderer Rezepturen?
Unternehmen der Lebensmittelbranche spielen eine essentielle, unverzichtbare Rolle bei der Versorgung der Bevölkerung mit gesunden, sicheren und für alle erschwinglichen Lebensmitteln. Viele Unternehmen bemühen sich auch aktiv, gesündere Produkte zu entwickeln und anzubieten – dies ist eine sehr erfreuliche Entwicklung. Verschiedene Unternehmen haben auch angefangen, den Nutri-Score auf freiwilliger Basis zu verwenden, darunter die meisten großen Lebensmitteleinzelhändler in Deutschland, die den Nutri-Score auf ihren Eigenmarken einsetzen. Die allermeisten Menschen wollen sich gesund und nachhaltig ernähren – entsprechend ist dies auch ein wichtiger Markt. Die Aufgabe der Politik ist es, diese Entwicklung durch günstige Rahmenbedingungen zu unterstützen, die richtigen Anreize zu setzen, und faire Wettbewerbsbedingungen herzustellen. Hierfür braucht es regulatorische und steuerliche Instrumente.
Welche ethischen Überlegungen spielen bei der Entwicklung und Umsetzung von Ernährungspolitiken eine Rolle?
Hier sind verschiedene Faktoren von Bedeutung. Viele Menschen sehen es als ethisch geboten an, allen Kindern unabhängig vom Einkommen der Eltern ein gesundes Aufwachsen zu ermöglichen, und sie vor vermeidbaren Gesundheitsgefahren zu schützen. Hieraus folgt die Wichtigkeit einer qualitativ hochwertigen, für die Eltern beitragsfreien Kita- und Schulverpflegung. Auch die Forderung nach einer Beschränkung von an Kinder gerichteter, gesundheitsschädlicher Werbung folgt hieraus. Darüber hinaus haben wir auch eine ethisch begründete Verantwortung gegenüber zukünftigen Generationen. Das Ernährungssystem ist für rund ein Drittel der globalen Treibhausgasemissionen verantwortlich. Es ist auch der wichtigste Faktor hinter dem weltweiten Artensterben, Entwaldung und dem Verlust nutzbarer Süßwasserreserven. Es kann, und muss sehr viel mehr dafür getan werden, dass auch zukünftige Generationen die selben Lebenschancen auf dem Planeten Erde haben wie wir. Hierzu gehört u.a. die Vermeidung von Lebensmittelabfällen, und eine Verringerung des Konsums tierischer Lebensmittel, die im Durchschnitt einen deutlich größeren ökologischen Fußabdruck haben als pflanzliche Lebensmittel. Die Verbesserung des Angebots an gesunden, attraktiven pflanzenbasierten Gerichten ist hier ein wichtiger Ansatzpunkt. Eine weiterer Aspekt ist die Achtung der individuellen Autonomie und Entscheidungsfreiheit. Hierzu gehört unter andern, Menschen informierte, reflektierte Entscheidungen zu ermöglichen – durch fundierte Ernährungsbildung, aber auch durch das Bereitstellen von verlässlichen, aussagekräftigen Informationen mit Labeln wie dem Nutri-Score. Die allermeisten Menschen wollen sich gesund und nachhaltig ernähren. Aufgabe der Politik ist es, den Menschen eine solche Ernährung im Alltag auch tatsächlich möglich zu machen, und zwar möglichst unabhängig vom Einkommen und der persönlichen Lebenssituation. Ein Ansatzpunkt hierfür ist die Förderung eines gesunden und nachhaltigen Essensangebot in Betriebskantinen und sozialen Einrichtungen wie Krankenhäusern – oder die bereits erwähnte Mehrwertsteuerbefreiung für Obst und Gemüse.
Experteninterview mit Prof. Dr. Jan-Paul Heisig
Über Prof. Dr. Jan-Paul Heisig:
Prof. Dr. Jan Paul Heisig ist ein Soziologieprofessor an der Freien Universität Berlin, spezialisiert auf soziale Ungleichheit. Er leitet seit 2019 die Forschungsgruppe Gesundheit und soziale Ungleichheit am Wissenschaftszentrum Berlin. Heisig promovierte 2013 an der Freien Universität Berlin und hat in verschiedenen Projekten zu sozialer Integration und wirtschaftlichen Lebensrisiken gearbeitet. Sein akademischer und beruflicher Werdegang beinhaltet ein Diplom in Soziologie und einen Aufenthalt als Visiting Graduate Student in den USA. Seine Forschung bietet wichtige Einblicke in die Themen Gesundheit, Bildung, Arbeitsmarkt und Altern.
Inwiefern führt der sozioökonomischen Status zu Gesundheitsungleichheiten?
Der sozioökonomische Status ist ein mehrdimensionales Konstrukt, das die Merkmale Einkommen, Bildung und Beruf umfasst. Für alle drei gilt, dass ein starker Zusammenhang mit der Gesundheit besteht. Besonders deutlich ist das bei der Lebenserwartung: Auswertungen des Sozio-oekonomischen Panels für die Jahre 1992 bis 2016 zeigen beispielsweise, dass die Lebenserwartung bei Geburt für Frauen in der niedrigsten Einkommensgruppe (< 60% des bedarfsgewichteten Medianeinkommens) 78,4 Jahre beträgt, in der höchsten Einkommensgruppe (≥ 150% des bedarfsgewichteten Medianeinkommens) 82,8 Jahre. Bei den Männern sind die Unterschiede mit 71,0 bzw. 79,6 Jahren noch größer. Hinzu kommt, dass die Gesundheit schon zu Lebzeiten stark mit dem sozioökonomischen Status zusammenhängt. Die Selbsteinschätzung des Gesundheitszustandes fällt bei Menschen mit niedrigem Status deutlich schlechter aus. Auch für die meisten chronischen körperlichen und psychischen Erkrankungen gilt, dass benachteiligte Bevölkerungsgruppen stärker betroffen sind. Da gibt es nur wenige Ausnahmen, z.B. bei einigen Formen von Krebs. Komplizierter und seit Jahrzehnten intensiv diskutiert ist die Frage, inwiefern diese Zusammenhänge ursächlicher Natur sind und in welche Richtung die Kausalität verläuft. Inwieweit mach Armut krank und inwieweit gilt umgekehrt, dass Krankheit arm macht? Eine weitere Frage ist, welche Prozesse einem eventuellen kausalen Effekt zugrunde liegen. Sind es z.B. Unterschiede in der Gesundheitsversorgung, im Gesundheitsverhalten, in den Wohn-, Umwelt- und Arbeitsbedingungen oder auch der chronische psychosoziale Stress, der mit einem niedrigen Sozialstatus einhergeht? Für all diese Einflussfaktoren gibt es empirische Belege und insofern auch eine Grundlage für entsprechende Interventionen. Eine genaue Zurechnung ist jedoch schwierig, zumal die Faktoren auch untereinander zusammenhängen.
Wie wirkt sich der Bildungsgrad auf die Gesundheit aus?
Bildung ist wie gesagt eine der Kerndimensionen des sozioökonomischen Status und steht in einem starken Zusammenhang mit dem allgemeinen Gesundheitszustand, Sterblichkeit und Lebenserwartung. Auch hier gibt es zunächst berechtigte Fragen nach der Kausalrichtung: Wenn Kinder und junge Erwachsene auf Grund von chronischen Erkrankungen nicht am Schulunterricht teilnehmen oder eine Ausbildung oder ein Studium unterbrechen müssen, ist das sicher nicht förderlich für den Bildungserfolg. Zudem kann es sich hier wie bei jedem Zusammenhang auch um eine Scheinkorrelation handeln, die zumindest teilweise auf andere (unbeobachtete) Faktoren zurückzuführen ist. Es gibt inzwischen aber durchaus klare Belege für einen kausalen Effekt der Bildung auf die Gesundheit, auch wenn noch viel weitere Forschung nötig ist. Besonders einflussreich sind hier einige überwiegend US-amerikanische Studien, in denen langfristige Effekte (früh)kindlicher Bildungsprogramme nachgewiesen wurden, zum Teil im Rahmen kontrollierter randomisierter Studien. Ein anderer Ansatz mit insgesamt weniger eindeutigen Befunden stützt sich auf „natürliche Experimente“, insbesondere auf Erhöhungen der Pflichtschulzeit, wie es sie in den Nachkriegsjahrzehnten in praktisch allen europäischen Ländern und auch außerhalb Europas gegeben hat. Ein Nachteil dieses Ansatzes ist, dass diese Reformen sehr spezifische Bevölkerungsgruppen betreffen, z.B. Personen, die die Schule direkt nach dem Ende der Pflichtschulzeit verlassen. Die Auswirkungen eines längeren Schulbesuchs für diese Gruppe müssen nicht unbedingt repräsentativ für die (weniger leicht zu ermittelnden) Effekte in anderen Gruppen sein. Dieser Nachteil wird jedoch durch einen großen Vorteil aufgewogen: Man kann sich relativ sicher sein, dass etwaige Veränderungen der Gesundheit im Zusammenhang mit einer solchen Bildungsreform ursächlich auf die längere Bildungsbeteiligung zurückzuführen sind, denn andere Wirkungspfade sind sehr unwahrscheinlich. Was die Ergebnisse dieser Studien angeht scheinen positive Effekte insgesamt zu überwiegen, bei erheblichen Unterschieden von Studie zu Studie. Es gibt zwar einige halbwegs konsistente Muster, insgesamt ist das Bild aber noch recht uneinheitlich. Weiterer Forschungsbedarf besteht auch hinsichtlich der möglichen Wirkungskanäle. Beruhen die positiven Effekte von Bildung auf höherer Gesundheitskompetenz (etwa hinsichtlich der Verarbeitung gesundheitsrelevanter Informationen) und entsprechendem gesundheitsförderlichen Verhalten oder ist es eher der Zugang zu besseren Arbeitsplätzen und zu ökonomischen Ressourcen, der mit höherer Bildung einhergeht?
Inwiefern beeinflusst der familiäre Hintergrund die Gesundheit von Kindern?
Deskriptiv ist es auch hier zunächst so, dass schon direkt nach der Geburt deutliche Ungleichheiten nach der sozialen Position der Familie bestehen. In Familien mit niedrigem Sozialstatus kommen Kinder häufiger zu früh und/oder mit niedrigem Geburtsgewicht auf die Welt. Diese Unterschiede bestehen in den Folgejahren fort. Vieles spricht dafür, dass sie sich sogar noch vergrößern, wobei es natürlich nicht ganz einfach ist, den Gesundheitszustand über die gesamte Kindheit und Jugend hinweg vergleichbar zu messen. Auch in diesem Fall gibt es durchaus klare Belege für einen kausalen Effekt des sozioökonomischen Status. Eine interessante, relativ neue Studie zu diesem Thema hat beispielsweise untersucht, wie sich eine Zahlung von 190 Pfund im letzten Schwangerschaftstrimester in England und Wales auf das Geburtsgewicht von Kindern ausgewirkt hat. Da der Leistungsanspruch auf einer Stichtagsregelung basierte, ist hier ein einfacher Vorher-Nachher-Vergleich möglich. Trotz der überschaubaren Leistungshöhe kann die Autorin klare Effekte auf die Wahrscheinlichkeit von Frühgeburten und (damit verbunden) auch auf das Geburtsgewicht nachweisen. Aus verschiedenen Gründen kommt sie zu dem Schluss, dass diese positiven Effekte vor allem auf der Reduktion von mütterlichem Stress durch den Geldtransfer beruhen. Auch die Umweltqualität spielt für die Gesundheit von Kindern offenbar eine wichtige Rolle, zumindest eine größere als für Länder wie Deutschland gemeinhin angenommen wird. Kinder reagieren besonders empfindlich auf eine hohe Belastung mit Luftschadstoffen und andere Umweltgifte, und sozioökonomisch benachteiligte Quartiere sind stärker von diesen Einflüssen betroffen. Hier gibt es eine Reihe von Studien, die nennenswerte kausale Effekte auf die Gesundheit von Kindern belegen.
Welche Rolle spielt der sozioökonomische Status bei der Prognose von chronischen Krankheiten?
Auch hier gilt, dass bei den meisten Erkrankungen tatsächlich große Unterschiede nach dem sozioökonomischen Status bestehen. Es ist also nicht nur so, dass Menschen mit niedrigem Status häufiger bzw. früher erkranken. Auch nach der Erstdiagnose erleben sie im Mittel weniger günstige Verläufe, die mit einer geringeren Lebensqualität und bei schweren Erkrankungen mit teils deutlich erhöhter Mortalität einhergehen. Unterschiede im Krankheitsstadium zum Zeitpunkt der Erstdiagnose, etwa auf Grund von Unterschieden bei der Inanspruchnahme von Vorsorgeuntersuchungen, spielen dabei eine durchaus wichtige Rolle. Zugleich belegen aber viele Studien, dass der sozioökonomische Status den weiteren Krankheitsverlauf auch unabhängig vom Schweregrad bei der Erstdiagnose prägt. Die Forschung liefert hier einige Hinweise auf relevante Faktoren. Auf jeden Fall scheint es eine ganze Reihe zu sein: neben Unterschieden in den Therapieformen spielen zum Beispiel auch das Gesundheitsverhalten oder die Unterstützung durch das soziale Umfeld eine Rolle, wobei die Bedeutung der einzelnen Aspekte sicher stark von der jeweiligen Erkrankung abhängt.
Können Bildungsprogramme als medizinische Behandlung und Prävention im weitesten Sinne verstanden werden?
Angesichts der oben diskutierten Befunde würde ich diese Frage durchaus mit Ja beantworten. Nach allem, was wir wissen, können wir zumindest von einem gewissen positiven Effekt der Bildung auf die Gesundheit ausgehen, auch wenn hinsichtlich der genauen Stärke des Zusammenhangs für einzelne Gesundheitsmerkmale, hinsichtlich möglicher Abhängigkeiten von individuellen und sozialen Kontextfaktoren und hinsichtlich der genauen Wirkungspfade noch erheblicher Forschungsbedarf besteht. Gleichzeitig wird sich das Problem gesundheitlicher Ungleichheit nicht allein durch Investitionen im Bildungsbereich lösen lassen (für die es natürlich auch eine Reihe anderer Argumente gibt). Dafür braucht es einen deutlich breiteren Ansatz, der neben dem Bildungsbereich nicht nur der Gesundheitspolitik und Gesundheitsversorgung, sondern auch der Sozialpolitik und dem Arbeitsmarkt eine wichtige Rolle zuweist. Auch die Reduzierung von schädlichen Umwelteinflüssen und die Schaffung gesunder Lebensumwelten für alle, vor allem im städtischen Kontext, ist ein wichtiges Handlungsfeld.
Experteninterview mit Dr. phil. Eva Christina Stibane
Über Dr. phil. Eva Christina Stibane:
Dr. Stibane ist tätig an der Philipps-Universität Marburg und hat sich seit 2008 maßgeblich in der medizinischen Bildung engagiert. Ihre Karriere umfasst den Aufbau des Marburger interdisziplinären Skills Labs (MARIS) und die Leitung des Dr. Reinfried Pohl-Zentrums für medizinische Lehre.
Zuvor war sie als ergotherapeutische Lehrkraft und Schulleitungsmitglied an der Berufsfachschule FOKUS in Marburg/Cölbe aktiv und beteiligte sich an EU Leonardo-da-Vinci-Programmen. PD. Dr. Stibanes akademische Qualifikationen beinhalten Weiterbildungen in Hochschuldidaktik und klinischer Evaluation sowie ein Studium in Erziehungswissenschaften, Psychologie und Soziologie.
Ihre Promotion an der Universität Gießen thematisierte die Implementierung von kompetenzorientierten Prüfungsinstrumenten in der Medizinerausbildung. Für ihre innovativen Lehrmethoden und Beiträge zur medizinischen Bildung wurde Dr. Stibane mit dem Hessischen Hochschulpreis für Exzellenz in der Lehre und dem Lehrpreis „Lehre@Philipp“ ausgezeichnet.
Sie gilt als Schlüsselfigur in der Transformation der medizinischen Ausbildung, mit einem besonderen Fokus auf die Integration von Theorie und Praxis.
Was ist die Vision des MARIS-Programms in der medizinischen Ausbildung?
Eine Vision ist, dass die Simulation und praktischen Übungen, die wir in der curricularen Lehre anbieten, einen direkten Link zum Unterricht am Krankenbett bilden, also zeitlich aufeinander abgestimmt sind. Die Simulation soll nicht den praktischen Unterricht mit und am Patienten ersetzen, was leider zum Teil der Fall ist, sondern diesen vorbereiten. Mit der neuen ÄApprO und der Modularisierung sollten wir dieses Prinzip unbedingt umsetzen.
Inwiefern trägt die interdisziplinäre Struktur von MARIS zur medizinischen Ausbildung bei?
Das MARIS ist zum einen, wie Du sagst, interdisziplinär, was bedeutet, dass wir prinzipiell allen Kliniken und Instituten des klinischen Abschnitts als Plattform und Dienstleister zur Verfügung stehen. Von Vorteil ist dabei, dass wir eine Einrichtung des Studiendekanats sind und deshalb von Anfang an mitgedacht wird, wie Unterrichtsprojekte auch formal in das Curriculum integriert werden können. Dabei ist das MARIS ein Innovationstreiber, indem es den Fächern und Kliniken Möglichkeiten bietet, Neues zu pilotieren und bei Erfolg zu etablieren und es regt als Institution auch selbst neue Projekte oder Methoden an und begleitet die Umsetzung.
Wie werden die Lehrinhalte im MARIS auf die Bedürfnisse verschiedener Lernstile abgestimmt?
Ich bin überzeugt, dass aus dem insgesamt großen Angebot der Lehrveranstaltungsformen und Unterrichtsmethoden allen Studierenden mit unterschiedlichen Lernstilen ausreichende Möglichkeiten geboten werden, zu lernen. Natürlich ist es ideal, wenn es zu den Lehrinhalten abgestimmte Materialien und Medien, über die Teilnahme an einer Lehrveranstaltung hinaus, gibt. Da wir heute für das Lernen theoretischer Inhalte eine Fülle von Medien haben über Skripte, Bibliotheken und das Internet, sind insbesondere die Angebote für die kommunikativen und praktischen Fertigkeiten oder für zeitkritische Abläufe in der Patientenversorgung, die über Virtual Reality, also VR, geübt werden können, vor Ort wichtig. In der VR stehen wir noch am Anfang, aber das ist sicher auch gerade mit den Entwicklungen in der KI ein sich schnell entwickelnder neuer Simulationsbereich.
Welche Rolle spielen computergesteuerte Simulatoren in der Ausbildung durch MARIS?
Wir sind hier – im Vergleich zu anderen – konservativ aufgestellt. Nur für wenige Skills setzen wir computergesteuerte Simulation ein. Da ist ganz prominent die Anästhesie mit der Narkoseeinleitung zu nennen, dann folgen Herz- und Lungenauskultation, die zu den Basisfertigkeiten gehören und computerbasiert sind. Und dann gibt es die VR-Technik, die z.Z. nur in der Inneren Medizin eingesetzt wird mit wenigen Fällen, an denen die Studierenden lernen. Die meisten Anwendungsbereiche für computergesteuerte Simulation liegen meines Erachtens in der Weiterbildung. Das MARIS unterstützt zwar hie und da Weiterbildungsangebote, ist jedoch ein Lernzentrum für Studierende – und im interprofessionellen Unterricht – auch für Auszubildende. Aus Finanzierungsgründen gilt es, beides zu trennen.
Wie wird die Effektivität der Lehrmethoden im MARIS bewertet und verbessert?
Wir verändern immer wieder unsere Methoden aufgrund von Rückmeldungen von Tutor*innen und Studierenden. Kaum etwas bleibt, wie es ist, denn es gibt nicht nur Verbesserungspotenzial, sondern auch Entwicklungen in der Technik, in den Methoden, in der Haltung der Studierenden oder Tutor*innen. Pilotierungen werden natürlich immer individuell evaluiert. Unsere Standard-Evaluation setzen wir mittlerweile nur alle 2,5 Jahre ein, insbesondere für die Legitimation dem Fachbereich gegenüber, dafür dann aber in jedem Kurs, das heißt in rund eintausend Kursgruppen eines Semesters.
Welche Rolle spielen mündlich-praktische Prüfungen im MARIS-Konzept?
Eine große. Von Beginn an wollten wir keine „Spielwiese“ für Studierende sein, sondern das Lernen hin zu einem Standardniveau fördern. Deshalb haben wir in den ersten beiden klinischen Semestern eine OSCE-Prüfung etabliert, im zweiten klinischen Jahr führen wir eine mündliche Parcoursprüfung über alle Fächer eines Semesters durch und im dritten klinischen Jahr findet eine formative – also nicht bestehensrelevante - OSCE-Prüfung statt, die für die Studierenden aus drei 20-minütigen Stationen aus fast allen Fächern besteht und vor dem PJ ein Feedback zu den Kompetenzen in der klinischen Entscheidungsfindung bietet.
Experteninterview mit Dr. Dina Faltings
Über Dr. Dina Faltings:
Dina Faltings, eine international renommierte Expertin in der Welt der Ägyptologie. Seit 2003 bekleidet sie die Position als Kustodin der Ägyptischen Sammlung an der Universität Heidelberg, wo sie für die Bewahrung und Erforschung einer bedeutenden ägyptologischen Sammlungen verantwortlich ist.
Ihre berufliche Reise in die Tiefen der ägyptischen Geschichte begann jedoch schon viel früher. Zwischen 1993 und 1998 war Dina Faltings eine Schlüsselfigur am Deutschen Archäologischen Institut in Kairo. Hier übernahm sie eine leitende Rolle in den vor- und frühgeschichtlichen Ausgrabungen von Buto im Nordwestdelta, einem Gebiet, das reich an archäologischen Schätzen ist. Ihre Arbeit umfasste nicht nur die Feldforschung, sondern auch die akribische Redaktion wissenschaftlicher Publikationen, darunter die Studien zur Archäologie und Geschichte Altägyptens (SAGA) und die Abhandlungen des DAI Kairo (ADAIK). Ihre Expertise erstreckte sich auch auf die Fotografie, wo sie als Fotoreferentin ihr Auge für Details unter Beweis stellte.
Ihre universitäre Ausbildung erhielt sie an der Universität Heidelberg unter der Anleitung von Professor Jan Assmann.
Dina Faltings' frühe akademische Jahre waren geprägt von praktischer Erfahrung. Sie arbeitete als wissenschaftliche Hilfskraft bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), wo sie sich mit der Fund- und epigraphischen Aufnahme in den Gräbern sowie der Umzeichnung der aufgenommenen Dekoration für die Publikationen des Ramessidenprojektes beschäftigte. Ihre Zeit am DAI Kairo, wo sie ebenfalls als wissenschaftliche Hilfskraft diente, ermöglichte es ihr, an der Bearbeitung der Keramik an der Roten Pyramide des Snofru in Dahschur mitzuwirken.
Ihre frühen Studienjahre an der Universität Hamburg unter Professor Wolfgang Helck, sowie ihre Nebenfächer in Ur- und Frühgeschichte und Hethitologie, legten den Grundstein für ihre spätere Karriere.
Dina Faltings' Weg durch die Welt der Ägyptologie ist ein Zeugnis ihrer Leidenschaft und ihres Engagements. Ihre Arbeit hat nicht nur zur Erweiterung unseres Verständnisses der alten ägyptischen Zivilisation beigetragen, sondern auch das kulturelle Erbe für zukünftige Generationen bewahrt.
Wie genau bestimmen Sie das Alter einer Mumie?
Das Lebensalter einer Mumie wird bestimmt über die medizinischen Faktoren wie Schließung der Knochen- und Gelenkfugen, Abnutzungserscheinungen bei Knochen und Zähnen und dgl. In Ägypten sind die Zähne ein sehr guter Indikator für das Alter, da das Mehl für das Brot auf Steinen gerieben wurde, von denen trotz Sieben des Mehls immer noch etwas ins Brot geriet. Und da Brot eines der Grundnahrungsmittel war, das jeder Mensch zu jeder Mahlzeit aß, zeigt sich anhand des Zahnstandes meist sehr gut das Alter. Es hat also damals beim Essen immer im Mund geknirscht. Je weiter abgeschliffen ein Mumienzahn ist, desto älter war der Mensch. Das Alter der Mumie, d.h. zu welchem Zeitalter sie gehörte, zeigt sich einerseits an der Mumifizierungs- und Wickelungstechnik, die sich im Laufe der Zeit immer wieder veränderten, sowie an den stilistischen Details der Mumienauflagen wie z.B. der vergoldeten Maske oder dgl. und dem Sarg (wenn es ihn noch gibt). Sobald wir Schrift und Bilder haben, können wir also kunstgeschichtlich sehr gut datieren. Die naturwissenschaftliche Datierungs-Methode C14 bzw. Radiokarbonmethode, bei der der Zerfall eines bestimmten radioaktiven Atoms gemessen wird, das in jeder lebenden Zelle vorhanden ist, wird auch gerne angewendet, aber man braucht dafür ein bisschen organisches Material, das auf keinen Fall mit heutigen Materialien (z.B. Haar- oder Hautzellen) kontaminiert sein darf. D.h. es muss eine Probe genommen werden, die entweder aus dem Inneren der Mumie stammt, oder von den Stoffbahnen kommt (allerdings ohne das Bitumen, das die Altersbestimmung wiederum sehr viel älter machen würde). Meist fallen solche Proben beim Hantieren von Mumien sowieso irgendwann einmal an. Wenn man diese korrekt konserviert, können sie also in dieser Hinsicht von Nutzen sein. Absichtlich zerstören tut man heute nur noch unter genauester Abwägung von Schaden und Nutzen.
Welche Techniken verwenden Sie zur Identifizierung von Krankheiten in Mumien?
Mumie wird im CT gescannt und dann wird anhand der vorliegenden Daten von einem Arzt bestimmt, welche Krankheiten zu erkennen sind. Mumienforschung ist zwingend interdisziplinär, das liegt nicht in der Kompetenz von Archäologen. Sehr oft ist die Todesursache nicht mit Sicherheit zu bestimmen, da ja Mumien, die auf pharaonische Weise mumifiziert wurden, ihre inneren Organe und das Gehirn nicht mehr besitzen. Diese wurden von den Mumifizierungspriestern entnommen, um eine schnelle Verwesung zu verhindern. Wenn also dieser Mensch an einer Krankheit starb, die sich nicht am Knochenbild zeigt, sondern nur ein bestimmtes Organ betraf, das nicht mehr vorhanden ist, dann sind wir meist nicht in der Lage, die Krankheit zu identifizieren. Insofern war unser "Patient" Djed-Hor mit der mitmumifizierten Medizin im Ohr, seinen unverheilten zerstörten Mastoidzellen und mit Eiter gefüllten Luftkammern in dem Knochen ein ganz spezieller Fund.
Wie unterscheiden sich moderne bildgebende Verfahren von denen, die bei Mumien angewandt werden?
Gar nicht. Es ist nur normalerweise nicht möglich, ein MRT von einer Mumie zu machen, da dafür Feuchtigkeit vorhanden sein muss, was normalerweise bei altägyptischen Mumien nicht der Fall ist. Ein CT-Scan einer Mumie geht genauso vor sich wie das CT eines lebenden Patienten.
Wie bestimmen Sie die Todesursache einer Mumie?
Das macht der Mediziner. Dafür müssen die unterschiedlichen Dichtewerte der Materialien wie Haut, Stoff, Knochen usw. zunächst optisch unterscheidbar gemacht werden, so dass sich im Scan die krankhaften Veränderungen deutlich abzeichnen. In unserem Fall war es eine unbehandelte Mastoiditis, bei der der Eiter im Mastoid den Knochen zur Auflösung bracht, so dass die Bakterien zuletzt ungehindert in den Hirnbereich eindringen konnten. Hier lösten sie dann eine lethale Meningo-Enzephalitis aus. Tödlich deswegen, weil die vom Eiter zerfressenen Knochenränder keinerlei Anzeichen von Heilung aufwiesen. Das muss unglaublich schmerzhaft gewesen sein, man weiß ja allein schon, wie schmerzhaft eine Mittelohrentzündung ist – umso schlimmer, wenn der Knochen um das Ohr herum sich entzündet!
Welche Rolle spielt DNA-Analyse in Ihrer Forschung?
Sie könnte eine größere Rolle spielen, wenn es nicht so teuer wäre, sie untersuchen zu lassen. Die Wissenschaft ist gerade erst dabei, dazu eine verlässliche Datenbasis in Bezug auf die altägyptische Bevölkerung aufzubauen. Dabei wird jeder entzifferte DNA-Strang regelrecht gefeiert.
Können Sie den Prozess der Probenentnahme aus Mumien beschreiben?
Wie gesagt, man versucht, möglichst zerstörungsfrei zu arbeiten und wenn möglich, bereits existierende Proben, die irgendwann einmal von der Mumie abgefallen sind, zu nutzen. Wenn es aus wissenschaftlichen Gründen extrem wichtig ist, eine Probe aus dem Inneren einer Mumie zu entnehmen, versucht man, an einer Stelle anzusetzen, die ohnehin schon zerstört ist. So hatten wir vor ca. 15 Jahren einmal eine Probenentnahme aus der Lunge einer natürlichen Mumie aus dem frühen Mittelalter, bei der der Verdacht auf TB bestand, weil ein Röntgenbild Hinweise auf Knochen-TB gezeigt hatte. Das wurde mit einem ferngesteuerten Gerät gemacht, ähnlich denen, die für Magenspiegelungen eingesetzt werden. Das war nicht so problematisch, weil diese Mumie durch Verwesung viele Löcher an ihrer Oberfläche hat. Bei Djed-Hor mussten wir einen begründeten Antrag schreiben und der Rektor der Universität erteilte uns schließlich die Genehmigung. Der mögliche wissenschaftliche Erkenntnisgewinn war hier so groß, dass ein kleines, ca. 3mm breites Loch hinter dem Ohr der Mumie, das noch dazu optisch leicht wieder unsichtbar gemacht werden könnte, im Verhältnis dazu nicht so stark ins Gewicht fiel. Es gibt ja ein altägyptisches Medizinerhandbuch, das über 20 Rezepte für Ohrmedikamente auflistet. Deren Inhaltsstoffe reichen von der sog. "Dreckapotheke", die Urin, Katzenblut, zermahlene Fliegen u.ä. verwendet, bis zu Honig und Weidenrinde, die ja real nachgewiesene medizinische Wirkung haben. Deswegen wäre es so wichtig, festzustellen, welche Medizin der altägyptische Arzt seinem Patienten ins Ohr gab und ob sich Übereinstimmungen mit einem der bekannten Rezepte ergeben würden. Die Probe wurde mit einem dünnen Hohlbohrer entnommen. Es war allerdings wegen der Tränkung der äußeren Gewebeteile mit Bitumen und Harz sehr schwierig, denn da sich der Bohrer durch die Reibung erhitzte, schmolz das kristalline Harz und erstarrte sofort, sobald der Bohrer stoppte. Nachdem wir auf den Grund für das "Festhängen" gekommen waren, ging aber alles gut und wir konnten die Probe für die Forscher am Max-Planck-Institut entnehmen. Dabei wurde die richtige Richtung immer wieder im CT kontrolliert, genau wie beim lebenden Patienten.
Wie tragen Mumien zur Erforschung alter Krankheitserreger bei?
Es gibt manche Forscher, die sich auf die DNA bestimmter Bakterienstämme wie z.B. Tuberkeln spezialisieren und anhand ihrer Ergebnisse feststellen können, wie sich diese Bakterienstämme im Laufe der Jahrtausende an uns Menschen angepasst haben. Daraus lassen sich auch Erkenntnisse gewinnen für die heutige Medizin und den Umgang mit diesen Krankheiten. Da diese Forschung jedoch sehr aufwändig und teuer ist, stehen wir dabei eigentlich immer noch ziemlich am Anfang, auch wenn sie vielversprechende Ansätze bietet.
Können Sie frühere Behandlungsmethoden identifizieren?
Auch da stehen wir gerade erst am Anfang, wenn es darum geht, sie im CT sichtbar zu machen. Das liegt im Grunde an der Entwicklung dieser Technologie, die erst in en letzten ca. 10 Jahren so schnell und genau geworden ist, dass man damit etwas anfangen kann. So häufen sich erst in letzter Zeit die Berichte über mumifizierte Verbände auf eitrigen Wunden und dgl. Wenn es um die altägyptischen Behandlungsmethoden allein geht, so wissen wir darüber schon seit ca. 100 Jahren relativ gut Bescheid, denn es gibt verschiedene medizinische Papyri, die damals schon gut übersetzt und publiziert wurden, z.B. den berühmten Papyrus Ebers. Darin wird kasuistisch aufgezählt, was es für bestimmte Bereiche des menschlichen Körpers für Krankheiten gibt, wie der Arzt feststellen kann, ob er etwas tun kann oder nicht, und wenn ja, was er tun sollte. Andere Papyri wurden z.B. von Gynäkologen für Gynäkologie-Kollegen geschrieben oder von Wundärzten, die auf Kriegszügen dabei waren, usw. Der früheste Zahnarzt, den wir kennen, lebte zur Zeit des Königs Djoser, dem die erste Pyramide in Stufenform gehörte, also vor rund 5000 Jahren. In den 3 Jahrtausenden der pharaonischen Geschichte wurden viele medizinische Erfahrungen gemacht und aufgeschrieben. Das führt unweigerlich zu Fortschritt. Leider haben wir nur einen winzigen Ausschnitt der medizinischen Papyri aus der sicherlich unerschöpflichen Menge an medizinischer Literatur, die vorhanden war.
Gibt es Anzeichen für chirurgische Eingriffe an Mumien?
Ja, aber sie beschränken sich im Wesentlichen auf orthopädische Eingriffe bei Knochenverletzungen oder Entfernung von Fremdkörpern wie z.B. Pfeilspitzen. Das Öffnen des Körpers hat man möglichst vermieden, nur z.B. eitrig aufgequollene Körperteile wurden geöffnet und man war sich des Risikos von sich ausbreitenden Entzündungen sehr bewusst. Wir haben chirurgische Eingriffe bisher erst sehr selten an Mumien feststellen können. Die alten Ägypter hatten aber aufgrund der Mumifizierungspraxis wohl recht guten Einblick in die Anatomie des Menschen und man hat z.B. Prothesen für amputierte bzw. fehlende Gliedmaßen an Mumien gefunden.
Experteninterview mit Dr. med. Ruth Hecker
Über Dr. med. Ruth Hecker:
Dr. Ruth Hecker zeichnet sich durch ihre herausragenden Beiträge im Bereich der Medizin und der Patientensicherheit aus. Nach dem Studium der Humanmedizin an der Ruhr-Universität Bochum setzte sie ihre Weiterbildung in Anästhesiologie am Marienhospital Herne und dem katholischen Klinikum Bochum fort.
Seit 2011 steht sie an der Spitze des Qualitäts- und klinischen Risikomanagements der Universitätsmedizin Essen, wo sie die Rolle des Chief Patient Safety Officers übernahm.
2019 wurde Dr. Hecker zur Vorsitzenden des Aktionsbündnisses Patientensicherheit ernannt. Diese Position unterstreicht ihre Rolle als international anerkannte Pionierin in einem kritischen Sektor des Gesundheitswesens.
Das Aktionsbündnis Patientensicherheit (APS), eine Pionierorganisation im deutschen Gesundheitswesen, engagiert sich seit über 15 Jahren für die Förderung der Patientensicherheit. Gegründet als gemeinschaftliche Initiative von Fachleuten aus verschiedenen Bereichen des Gesundheitssystems, verfolgt das APS das Ziel, die Sicherheit der Patienten nachhaltig zu verbessern.
Dabei hat sich das Aktionsbündnis Patientensicherheit als unermüdlicher und innovativer Motor für Patientensicherheit in Deutschland etabliert. Seine Arbeit verbessert nicht nur die unmittelbare Patientenversorgung, sondern prägt auch maßgeblich die Entwicklung einer Sicherheitskultur im Gesundheitswesen.
Was genau verstehen Sie unter dem Begriff „Patientensicherheit"?
Laut dem APS-Weißbuch, Autor: Schrappe, ist Patientensicherheit die „Freiheit von Unerwünschten Ereignissen und Schäden in der Gesundheitsversorgung sowie (die) Beherrschung von Risiken.“
Welche Rolle spielt das Aktionsbündnis Patientensicherheit bei der Verbesserung der Patientenbehandlung, und wie kommt dies dem einzelnen Patienten zugute?
Das Aktionsbündnis Patientensicherheit setzt sich für eine sichere Gesundheitsversorgung ein und widmet sich der Erforschung, Entwicklung und Verbreitung dazu geeigneter Methoden. Vertreter aller Gesundheitsberufe und -institutionen, Patientenorganisationen und Interessierte haben sich zu einem gemeinsamen Netzwerk zusammengeschlossen. In Arbeitsgruppen, Gremiumssitzungen, Jahrestagungen und auf Fachkongressen fördern sie den gegenseitigen Austausch und erarbeiten Lösungen in konkreten Projekten. Daraus entstehen Handlungsempfehlungen und Patienteninformationen. Das Aktionsbündnis Patientensicherheit e.V. (APS) veröffentlicht die Ergebnisse seiner Projekte und stellt sie allen Einrichtungen und Interessierten im deutschen Gesundheitswesen kostenlos zur Verfügung. So können Patientinnen und Patienten und die Gesundheitsberufe einerseits auf die vertrauenswürdigen, unabhängigen, auf sie zugeschnittenen Informationen kostenfrei zurückgreifen. Ferner profitieren sie von der gesamten Breite des Gesundheitswesens, das sich im Aktionsbündnis Patientensicherheit zugunsten der Erhöhung von Patientensicherheit zusammengeschlossen hat und der Expertise der Fachleute und Mitglieder.
Welche Maßnahmen oder Verhaltensweisen können Patienten selbst ergreifen, um ihre eigene Sicherheit im medizinischen Umfeld zu gewährleisten?
Patientinnen und Patienten können einen wesentlichen Beitrag zu einer sicheren Behandlung leisten, wenn sie einbezogen und „empowert“ werden. Auch die WHO spricht sich für Patienten-Empowerment aus: „Die Einbeziehung und Befähigung der Patientinnen und Patienten ist vielleicht das wirksamste Instrument zur Verbesserung der Patientensicherheit.“ - Vorbereiten und Notizen machen - Reflektieren: Was habe ich, was sind meine Hauptprobleme, was für gesundheitliche Probleme hatte ich in der Vergangenheit? usw. - Immer nachfragen, wenn etwas nicht verstanden wurde - 4 Augen und Ohren, versuchen mit Begleitung zu Terminen zu gehen - Nachfragen, wenn man ein Medikament bekommt, bei Infusionen darauf achten, dass der richtige Name vermerkt ist Aber sogar gut informierte Patientinnen und Patienten wissen oftmals nicht, wenn sie Fehler wahrnehmen, wie sie diese angemessen kommunizieren können, ohne die Beziehung zu den Behandelnden zu gefährden. Viele Patientinnen und Patienten haben Hemmungen, Unklarheiten oder Bedenken während ihrer Behandlung anzusprechen. Sie vertrauen in der Regel den Ärztinnen und den Pflegenden und zögern, eine Bemerkung zu machen, die konfrontativ erscheinen könnte.
Welche Chancen bieten digitale Anwendungen und Technologien, um die Patientensicherheit in Deutschland zu verbessern?
Digitalisierung und technologischer Fortschritt bieten ein enormes Potenzial, die Versorgung sicherer zu machen und letztendlich auch Menschenleben zu retten. Im Fall von Verwechslungen aller Art, Erinnerungsfunktionen, Medikationsfehlern oder dem Übersehen oder Nichtvorhandensein von wichtigen Informationen. Die Digitalisierung bietet darüber hinaus eine ganze Bandbreite an Möglichkeiten für eine sichere Gesundheitsversorgung: Erhalt von qualifizierten, verständlichen Gesundheitsinformationen zum richtigen Zeitpunkt, Verstehen und Unterstützung der eigenen Krankheit über krankheitsbezogene Apps, informierte Entscheidungen auf Augenhöhe mit Ärztinnen und Ärzten treffen bezüglich der Diagnostik und Therapie. Termine beim Arzt online vereinbaren. Herz- und Lungenleistung zu Hause über telemedizinische Anwendungen messen und in Realzeit an das Gesundheitspersonal übermitteln. Alle Daten der Entscheidung und der Behandlung liegen gesammelt an einem Ort und können von Patientinnen und Patienten und dem Gesundheitspersonal jederzeit und überall eingesehen werden. Auch die Daten der unterschiedlichen Apps und Wearables fließen mit ein. Erinnerungsfunktionen an wichtige Dinge, zum Beispiel die Medikamenteneinnahme, das Messen von Vitalparametern oder auch an regelmäßiges Trinken und Essen. Erhalt von zugeschnittenen Begleitinformationen, wie der Patient oder die Patientin selbst die Krankheit beeinflussen und zur Krankheitsbewältigung beitragen kann. Möglichkeiten für Patientinnen und Patienten, sich online mit weiteren Betroffenen auszutauschen. Wenn sich kurzfristig Fragen ergeben, können diese per Messengerdienst oder über eine digitale Plattform per Videokonferenz als medizinische Konsultation geklärt werden. Über die Informationen, die die Patient:innen erhalten, sind sie aktiver Partner am eigenen Behandlungsprozess, die Kompetenz steigt. Durch die telemedizinische Erfassung von Daten und die Videokonsultationen besteht weniger Wegezeit, der Besuch der Arztpraxis, des Medizinischen Versorgungszentrum oder eines Krankenhauses ist seltener erforderlich. Aufgrund der Daten – aufbereitet durch Künstliche Intelligenz und die Errechnung des individuellen Risikoscores für andere Erkrankungen – werden Patientinnen und Patienten darauf hingewiesen, dass sie eine neue Untersuchung benötigen, um möglichen neuen Krankheiten frühzeitig zu begegnen.
Welche Möglichkeiten gibt es für einen Patienten, der ernsthafte Bedenken bezüglich seiner eigenen Sicherheit im medizinischen Umfeld hat?
Es gibt einige Dinge, die Patientinnen und Patienten berücksichtigen können, um ihre Sicherheit zu erhöhen. Zum Beispiel: Unsicherheiten ansprechen, Vertrauen gewinnen, wenn auf seine Bedenken eingegangen wird. Wichtig ist, dass man eine enge Bezugsperson hat, mit der man sprechen kann, die einen unterstützt und ebenfalls die Bedenken anspricht. Werden die Bedenken nicht gehört und es wird nicht darauf eingegangen, dann kann man in der ambulanten Versorgung versuchen den Arzt zu wechseln, in einer stationären Einrichtung kann man sich an die Beschwerdestellen oder Patientenfürsprecher wenden. Broschürentipp: https://www.aps-ev.de/wp-content/uploads/2023/06/2019-PI_Reden_bester_Weg_2Aufl-1.pdf
Welche größten Herausforderungen sieht das Aktionsbündnis aktuell in Bezug auf die Patientensicherheit in Deutschland?
Die größte Herausforderung und das größte Potenzial besteht darin, Sicherheitskultur im Gesundheitswesen konsequent zu leben. Dafür müssen alle im Prozess der Gesundheitsversorgung ehrlich miteinander umgehen, wenn es darum geht, Bedingungen oder Fehler anzusprechen, und versuchen, Lösungen zu erarbeiten. Die Person, die Probleme anspricht, sollte dies ganz frei tun können. Es soll eine Kultur geprägt werden, in der wir bewusst mit Risiken umgehen, um so für mehr Sicherheit für Mitarbeitende und Patientinnen und Patienten zu sorgen.
Wie misst das Aktionsbündnis den Erfolg seiner Initiativen und Programme zur Verbesserung der Patientensicherheit?
Es gibt wiederkehrende Elemente, an denen wir feststellen, dass wir mit unserem Thema immer größere Kreise ziehen. Sei es, dass wir zahlenmäßig immer mehr Gesundheitseinrichtungen im Rahmen des Welttags der Patientensicherheit erreichen oder bei diesem wichtigen Tag für das Bewusstsein des Themas in der breiten Bevölkerung eine immer größere Reichweite mit der Medienarbeit erzielen. Oder sei es, dass wir als Erfolg zählen, dass Patientensicherheit in der Ausbildung fest im Curriculae in steigenden festen Modulen erreicht haben. Ansonsten ist es aber auch wichtig, nicht nur in Zahlen zu denken, sondern sich unterschiedliche Themenfelder vorzunehmen und diese inhaltlich zu bearbeiten. Denn in der Expertise und der Breite des gesamten Gesundheitswesens gemeinsam für das Ziel Patientensicherheit liegt unsere Kernkompetenz – und weil das Thema Patientensicherheit ein so breites Feld ist, finden wir es wichtig, stets unterschiedliche Aspekte in den Blick zu nehmen. Von Sepsis (#DeutschlandErkenntSepsis) bis Krebs (Partnerschaft 2024 mit yeswecan!cer/YES!CON) über die jährlichen Themenaufhänger der WHO für den Welttag der Patientensicherheit. Zentral ist das Erleben der Patientinnen und Patienten, und das zu messen und als feste Größe in die Gesundheitsversorgung einfließen zu lassen, ist eins unserer Ziele – das zu messen: da sind wir leider noch nicht.
Wie können sich Einzelpersonen oder Organisationen beim Aktionsbündnis engagieren oder dessen Arbeit unterstützen?
Wichtig ist auf der einen Seite die Mitgliedschaft oder monetäre Unterstützung in Form von Spenden an sich. Denn: Das Aktionsbündnis Patientensicherheit finanziert sich durch Mitgliedsbeiträge und Spenden. Mit einer Mitgliedschaft unterstützen Mitglieder und Spender das Aktionsbündnis Patientensicherheit kontinuierlich bei der Erreichung seines Ziels: Die Stärkung der Patientensicherheit in Deutschland. Inhaltlich ist innerhalb der Mitgliedschaft die Mitarbeit in Arbeits- und Expertengruppen des Vereins möglich. Die Arbeitsgruppen tagen regelmäßig und veröffentlichen ihre Ergebnisse in Form von Handlungsempfehlungen und Patienteninformationen. Das sind Publikationen, die allen Einrichtungen im deutschen Gesundheitswesen sowie Patient:innen und deren Angehörigen kostenlos zur Verfügung gestellt werden.
Experteninterview mit Dr. Ina Faßbender
Über Dr. Ina Faßbender:
Dr. Ina Faßbender ist kulturvergleichend arbeitende Entwicklungspsychologin, deren Forschung international zitiert wird. Ihre fundierte Ausbildung sowie ihre umfangreiche Forschungserfahrung ermöglichen ihr ein tiefgreifendes Verständnis dafür, wie soziokulturelle Faktoren Lernprozesse und die Persönlichkeitsentwicklung beeinflussen. Nach ihrem Bachelor- und Masterstudium in Kulturwissenschaften an der Europa-Universität Viadrina, Frankfurt (Oder) führte sie ihre akademische Laufbahn mit einer Promotion in Psychologie an der Universität Bielefeld fort, wo sie im Kulturvergleich Deutschland-Kamerun ein Projekt zu Lernprozessen vom Säuglings- bis in Kindergartenalter durchführte. Als Entwicklungspsychologin befasst sich Dr. Faßbender mit der gesamten Lebensspanne, wozu sie ab dem Jugendalter die Entwicklung von Lebenszufriedenheit und Persönlichkeit beispielsweise im Kontext von Lebensereignissen in den Blick nimmt. Ihre berufliche Karriere als wissenschaftliche Mitarbeiterin an Universitäten wie Bielefeld und Bochum, ihr Praktikum und ihre Forschungsassistenz am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie und der University of Lincoln, UK, sowie ihre Kooperationen mit Kollegen aus den USA heben ihre internationale Expertise hervor. Seit 2020 ist Dr. Faßbender Akademische Rätin an der Professur für Entwicklungspsychologie und Klinische Psychologie der Lebensspanne der Universität Siegen, wo sie mehrere Forschungsprojekte leitet und ein Beobachtungslabor für Säuglings- und Kleinkindstudien aufgebaut hat. Ihre Mitgliedschaften in Fachgesellschaften wie der American Psychological Association, dem International Congress of Infant Studies, der Deutschen Gesellschaft für Psychologie, wo sie sich beispielsweise mit Beteiligung an einem Kommentar zu einem Gesetzesentwurf zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen für den Jugendschutz einsetzte, und dem Netzwerk Frauen- und Geschlechterforschung NRW sowie Ihr Engagement für Open Science bekräftigen ihre Expertise.
Welche Rolle spielen nonverbale Signale in der Interaktion zwischen Kindern unterschiedlichen Alters?
Nonverbale Signale spielen eine wichtige Rolle in der Kommunikation von Kindern, vor allem in der präverbalen Phase, also bevor es ihnen möglich ist, sich verbal auszudrücken. Es ist spannend zu beobachten, wie gut Kinder aus eigener Motivation heraus miteinander kommunizieren können, auch wenn sie noch nicht viele Worte kennen. Besonders kleine Kinder nutzen Gesten wie Zeigen, Blickkontakt, Lächeln, das Reichen eines Spielzeugs oder körperliche Berührungen, um sich auszudrücken oder Kontakt herzustellen. Ältere Kinder in unserem Setting können diese Signale zumeist erkennen und passen ihre Gestik, Mimik und ihren Sprachstil an, um auf jüngere Kinder einzugehen. Schon ab einem Alter von etwa zwei Jahren, also noch bevor die meisten Kinder fließend sprechen können, haben sie ein Verständnis dafür, dass ein Säugling „klein“ ist. Damit meine ich nicht nur die Wahrnehmung seiner Körpergröße, sondern ein Gefühl dafür, dass ein Säugling vieles noch nicht kann und mitunter unbeholfen ist. Wir können immer wieder beobachten, dass Kinder im Kindergartenalter tolerieren, wenn ein Säugling oder einjähriges Kind es beim Versuch der körperlichen Annäherung z. B. an den Haaren zieht, schubst oder ähnliches. Ältere Kinder verwenden im Umgang mit Säuglingen durchaus Sprache, passen ihr Sprechen dann an die Kleineren an, aber sie verwenden auch Gesten, die sie wahrscheinlich im Kontakt mit Älteren nicht benötigen. Viele Videoszenen, die wir aufzeichnen, laufen daher ohne verbale Kommunikation ab. Trotzdem verstehen sich die Kinder. Es fasziniert mich immer wieder, wie klar ein drei-, vier- oder fünfjähriges Kind mit Vorsicht und Rücksicht auf einen Säugling zugeht und wie klar Säuglinge ein Kind als solches erkennen und in ihm auch eine Spielpartnerin oder einen Spielpartner erkennen. Wir hatten zwei Einzelfälle von Säuglingen vor der Kamera, die bedingt durch die Coronalockdowns erst bei uns vor laufenden Kameras erstmalig mit einem anderen Kind in Kontakt kamen. Obwohl ihnen die Erfahrung mit anderen Kindern fehlte, suchten sie den Kontakt und es kam – in beiden Fällen nach einer körperlichen Exploration des älteren Kindes durch den Säugling, was dieses friedlich geduldet hat – zum gemeinsamen Spiel.
Welche Bedeutung hat die emotionale Intelligenz für die Interaktion zwischen Kindern?
Es ist sehr schwierig, bei kleinen Kindern emotionale Intelligenz zu messen. Obwohl der Ausdruck in aller Munde ist, gibt es keinen psychometrisch validen Test, der sie erfassen könnte. Hierzu nämlich müsste das Konstrukt eindeutig und objektiv messbar sein, was auf die emotionale Intelligenz nicht zutrifft. Ihr Zeigen (und somit ihre Messbarkeit) ist von der Situation abhängig, in der wir uns befinden, was sich anders als beispielswiese eine kognitive Fähigkeit wie das Lernen von Bildsequenzen nicht objektiv, d. h. valide messen lässt. In Playdate erfassen wir zwei Kompetenzen, die sich wohl zu dem zählen lassen, was als emotionale Intelligenz bezeichnet wird: die Perspektivübernahmefähigkeit und das Verständnis von Emotionen. Hierzu gibt es valide Instrumente, sodass wir sicher sein können, genau zu erfassen, wie gut ein Kind emotionale Ausdrücke, also nonverbale Signale, verstehen und wie gut es sich in die Gedanken anderer (Kinder) hineinversetzen kann. Diese beiden Fähigkeiten entwickeln sich im Mittel mit dem Alter, also Fünfjährige beherrschen sie besser als Dreijährige, aber es gibt auch individuelle Unterschiede in der Entwicklung dieser Kompetenzen, sodass ein dreijähriges Kind diese Kompetenzen ebenso gut ausgeprägt haben kann wie ein fünfjähriges. Es ist deswegen wichtig, den Lebenshintergrund eines Kindes mitzuerfassen, also zu erfragen, ob ein Kind viel mit anderen Kindern Kontakt hat, beispielsweise durch Geschwister und/oder den Besuch einer Betreuungseinrichtung. Kinder mit einer höheren Perspektivübernahmekompetenz und einem besseren Verständnis von Emotionen sind im Umgang mit Säuglingen sicherer – sofern sie nicht selbst so schüchtern sind, dass sie sich nicht zu interagieren trauen. Das Temperament von Kindern zu erfassen ist daher auch wichtig, um ihr Verhalten korrekt einschätzen zu können.
Wie entwickeln Kinder Empathie und Verständnis füreinander während des gemeinsamen Spiels?
Empathie ist eine selbstbewusste oder selbstbezogene Emotion. Die bedeutet nicht, dass die Kinder egoistisch seien, sondern, dass sie sich ihrer selbst bewusst sind. Erst wenn ein Kind sich selbst als eigenständiges Wesen wahrnimmt, kann es ein Verständnis für die Bedürfnisse anderer entwickeln und für seine Möglichkeiten, auf diese Bedürfnisse zu reagieren, beispielwiese durch Teilen oder Trösten. In der Regel entwickeln Kinder diese Fähigkeit zu Selbs(er)kenntnis von der Mitte bis in die zweite Hälfte des zweiten Lebensjahres. Auch hier ist es so, dass ältere Kinder i. d. R. mehr Empathie besitzen als jüngere. Empathie kann als eine emotionale Reaktion auf die Gefühlszustände oder das Einfühlen in den Zustand eines anderen definiert werden. Dies beinhaltet das Verständnis von Emotionen. Empathie ist daher eine wichtige Komponente, damit ein besonders friedliches und fürsorgliches Spiel zwischen Kindern stattfinden kann. In den Interaktionssituationen, die wir filmen, verfügen die jüngeren Kinder noch nicht über (psychometrisch messbare) Empathie, die Kinder im Kindergartenalter jedoch schon. Es gibt keine Entwicklung von Empathie füreinander über das gemeinsame Spiel, sondern die Fähigkeit ist vorhanden und wird gezeigt oder sie ist nicht vorhanden und wird nicht gezeigt. Empathie messen wir mit einem validen Instrument für das Kindergartenalter. Sie wird als Basis für prosoziales Verhalten verstanden, was sich durch Teilen, Trösten und Helfen zeigt. Empathie selbst kann über Verhalten nicht gemessen werden, sondern prosoziales Handeln. Auch dieses erfassen wir mit einem validierten Instrument unabhängig von der Interaktionssituation. Kinder mit hohen Werten in den Instrumenten, die Empathie und prosoziales Verhalten messen, wirken im Umgang mit Säuglingen sicherer – immer, solange sie nicht zu schüchtern sind, um überhaupt zu interagieren.
Wie beeinflusst der soziokulturelle Hintergrund der Kinder ihre Interaktionsmuster?
Menschen lernen sozial adäquates Verhalten immer durch die Menschen, die sie umgeben, also im sozialen Kontext, in dem sie leben. Hierzu zählt vor allem die Familie, aber auch andere Kinder und ggf. Erzieher:innen, die sie regelmäßig sehen, bilden den sozialen Kontext. Die kulturellen und sozialen Prägungen dieser Personen nehmen auch Einfluss auf das Kind. Ich habe kulturvergleichende Studien mit Säuglingen und Kindergarten(alter)kinder in Kamerun und Deutschland durchgeführt und konnte nachweisen, die Wahrnehmung von Säuglingen bereits ab einem Alter von sechs Monaten durch ihr kulturelles Umfeld geprägt ist. Wir können deswegen davon ausgehen, dass alle Kinder, die an Playdate teilnehmen, soziale und kulturelle Prägung mitbringen. Unser Fokus liegt aber nicht auf der Suche nach kulturellen oder sozialen Prägungsunterschieden im Verhalten der Kinder, sondern auf Fähigkeiten, die in der Interaktion gezeigt werden oder eben nicht (Stichwort Schüchternheit). Ich kann vom Fall eines Säuglings berichten, der mit zwei älteren Brüdern (3 und 6 Jahre älter) aufwächst. Er konnte sofort auf das Kindergartenkind zugehen, hat Köperkontakt aufgenommen und das Spiel initiiert. Die liegt mit ein seiner Prägung, aber auch an seinem Temperament, denn er ist überhaupt nicht schüchtern.
Können Sie Beispiele für kreatives Spielverhalten in der Interaktion zwischen älteren und jüngeren Kindern geben?
Wir stellen in Playdate ausgesuchte Spielzeug zur Verfügung. Damit erfolgt gemeinsames Bauen von Figuren oder anderen Konstruktionen, falls Sie dies mit kreativem Spielvergalten meinen. Eigentlich ist dies aber eine Nutzung bekannter Objekte (= Bausteine) und nichts Kreatives. Deutlich häufiger ist kooperatives Spielen zu beobachten. Dazu gehören das Hin- und Herrollen eines Balls, aber auch das Spielen mit Holzfiguren. Am häufigsten beobachten wir jedoch ein Zeigen und Geben von bestimmten Spielzeugen sowohl vom älteren Kind, das wie oben beschrieben in dieser Situation mehr Gesten verwendet als Sprache, als auch vom Baby.
Welche Rolle spielt die Sprachentwicklung in der Kommunikation zwischen Kindergartenkindern und Babys?
Die Sprachentwicklung spielt in der Interaktionssituation zwischen einem Säugling und einem Kind im Kindergartenalter keine bedeutende Rolle. Natürlich kann ein älterer Säugling sich (auch mit Gestern) besser ausrücken als ein jüngerer, aber die Kinder initiieren Spiele untereinander nicht, indem sie sich vorher besprechen. So etwas ließe sich unter Peers beobachten, nicht in der Interaktion mit einem Säugling. Die älteren Kinder passen ihr Verhalten dem Kompetenzniveau des Säuglings an, was unheimlich spannend ist, weil es eines ganzen Bündels an Kompetenzen bedarf, um das eigene Verhalten den Bedürfnissen eines jüngeren Kindes anzupassen. Die Kindergartenkinder wissen, dass Babys nicht sprechen können und versuchen daher selten einen Dialog. Entweder spielen sie schweigend mit dem Baby oder imitieren dessen Laute oder sie verwenden infant-directed speech wie Erwachsene gegenüber Babys.
Welche Herausforderungen und Chancen sehen Sie in der Erforschung der kindlichen Interaktion?
Es gibt kaum Forschung zur nicht experimentell manipulierten, spontanen oder natürlichen Interaktion zwischen Säuglingen und älteren Kindern. Dabei findet genau diese Interaktion tagtäglich statt - wenn wir Erwachsenen die Kinder lassen und nicht moderierend eingreifen, wozu man mitunter ertragen muss, dass minutenlang nichts passiert. Es gibt ältere Studien zur Interaktion von Geschwistern, aber dies sind einander sehr gut bekannte Kinder. In Playdate versuchen wir die Interaktion einander unbekannter Kinder so realitätsnah wie möglich durchzuführen und leisten damit Pionierarbeit. Herausfordernd ist es, mit Interaktionssituationen umzugehen, in denen nichts passiert, die Kinder einfach nicht zueinander finden. Wenn die Kinder nichts machen, können wir auch nichts auswerten und folglich auch keinerlei Schlüsse ziehen. Die Forschung ist zudem ressoucenfordernd, weil wir Kinder, die sich nicht kennen, zeitgleich einladen müssen, was sehr genauer Absprache und hoher Bereitschaft der teilnehmenden Familien bedarf. Die Chancen der Beobachtung ohne experimentelle Manipulation liegen darin, das intrinsisch motovierte Verhalten von Kindern in der Interaktion zu verstehen. Wenn wir ihnen nicht sagen, was sie tun sollen, was tun sie dann? Weiß ein Dreijähriges, wie es mit einem Baby umzugehen hat? Wenn ja, warum? Warum finden wir bei in Deutschland aufwachsenden Kindern eine so breite Spanne an Verhaltensweisen einem Säuglinge gegenüber, die von absoluter Unsicherheit oder Hemmung bis hin zu nahezu erwachsenem Verhalten mit infant-directed speech reicht? Als kulturvergleichender Forscherin stellt sich mir natürlich die Frage, ob Kinder in andere Kulturkreisen keine Hemmung im Umgang mit Säuglingen zeigen. Ich würde gerne die Faktoren identifizieren, die zur Entwicklung der Kompetenz im Umgang mit kleineren Kindern führen.
Experteninterview mit Nicolas Bock
Über Nicolas Bock:
Nicolas Bock absolvierte von 2014 bis 2017 ein Bachelorstudium in Spanischer Philologie, Lateinamerikanistik sowie Kultur und Geschichte des Vorderen Orients.
Im akademischen Jahr 2015-2016 studierte er an der Universidad de Guadalajara in Mexiko. Anschließend erwarb er von 2017 bis 2020 einen Master in Interdisziplinären Lateinamerikastudien an der Freien Universität Berlin. Seine Masterarbeit fokussierte sich auf Katastrophenbewältigung in der Karibik.
Seit 2020 engagiert er sich im Bereich Risikomanagement und Resilienzplanung, insbesondere im medico-sozialen Kontext. Bock war maßgeblich am Forschungsprojekt RESIK beteiligt, das die Resilienz und Evakuierungsplanung für sozioökonomische Infrastrukturen erforscht.
Seit 2023 engagiert er sich für das Forschungsprojekt INCREASE, welches sich auf Risikomanagement im Kontext des Klimawandels konzentriert. Zusätzlich unterrichtet er seit 2021 an der Berliner Feuerwehr- und Rettungsdienstakademie.
Wie bewerten Sie die aktuelle Resilienz von Krankenhäusern gegenüber großen Krisensituationen?
Ganz allgemein ist das schwierig zu beurteilen – es kommt hier immer darauf an, ob im Haus eine gewisse Sensibilität für Notfallszenarien existiert und ob und wie die Krankenhausalarmplanung ausgestaltet ist und auch von den Mitarbeitenden gelebt wird. Oftmals werden Notfallpläne geschrieben und verschwinden dann lange Zeit in der Schublade. Es ist immer wieder engagierten Mitarbeitenden zu verdanken, dass Krankenhäuser sich aktiv mit ihrer eigenen Krisen- und Katastrophenresilienz auseinandersetzen. Dabei sind die Häuser hier als Kritis-Betriebe und Mitwirkende im Zivil- und Katastrophenschutz wirklich in der Pflicht. Allgemein konnten wir beobachten, dass die Resilienz gegenüber internen Notfällen – also z.B. Bränden oder MANV-Ereignissen eher höher ist – diese Ereignisse kommen recht häufig vor, lassen sich gut üben und sich oftmals auf das Krankenhaus begrenzen und vor Ort bewältigen. Schwieriger ist es bei langanhaltenden, großräumigen Lagen, wie sie im Forschungsprojekt anhand von Hochwasserlagen behandelt wurden. Wenn die Häuser solchen Lagen gegenüberstehen, gibt es noch einmal sehr viel mehr organisatorische und strukturelle Herausforderungen, werden die Abhängigkeiten von externen Dienstleistern offenbar, verknappen sich die Ressourcen oft rasant und schwinden die Hilfs- und Unterstützungsmöglichkeiten von außen. Krankenhäuser sind in solchen Fällen schlichtweg oft nicht lange durchhaltefähig. Zudem werden in den Alarmplanungen die Schadensereignisse oft als Einzelszenarien wahrgenommen – vielfach stehen Krankenhäuser jedoch komplexen Kaskadeneffekten gegenüber. Bei einem Hochwasser z.B. ist ja nicht nur Überflutung ein Thema, sondern fallen oft auch Strom-, Wasser- und Wärmeversorgung aus, brechen die Lieferketten des Krankenhauses ab, werden Kommunikationswege unterbrochen.
Welche spezifischen Herausforderungen adressiert das RESIK-Projekt?
Wir wollten einerseits Krankenhausinfrastrukturen härten, damit diese Katastrophen besser überstehen können und Worst-Case-Szenarien wie Evakuierungen möglichst vermieden werden. Auf der anderen Seite war die Planung von Krankenhausevakuierungen Hauptthema. Wir haben im Projekt dabei Evakuierungen als Prozess verstanden. Wenn Krankenhausnotfälle so schwerwiegend werden, dass evakuiert werden muss, reichen die Planungen von Krankenhäusern, aber auch von den Kommunen oft nur bis zur „eigenen Haustür“. Wir haben auch den Transport, die Unterbringung und Weiterversorgung von Patientinnen und Patienten in dezentralen Ausweicheinrichtungen und die Bewältigung der Lage im Krankenhaus bis zur Betriebswiederaufnahme in den Blick genommen. Bezüglich der Ausweicheinrichtungen waren uns die Aspekte, Patientinnen und Patienten auch außerhalb von anderen Krankenhäusern in vorgeplanten, geeigneten dezentralen Einrichtungen temporär weiterversorgen zu können wichtig. Bei Flächenlagen oder mehreren zu evakuierenden Krankenhäusern kann es durchaus passieren, dass für bestimmte Patientengruppen eine Weiterversorgung außerhalb von anderen Kliniken gewährleistet werden muss.
Können Sie die konkrete Umsetzung des Projektes beschreiben?
Das Forschungsprojekt, welches vom Bundesministerium für Bildung und Forschung im Rahmen des Sicherheitsforschungsprogramms der Bundesregierung gefördert wurde, lief von 2020 bis 2023 und ist mittlerweile abgeschlossen. Hierbei forschte ein Verbund aus verschiedenen Partnerorganisationen am Thema. Dieser umfasste das Generalsekretariat sowie den Landesverband Nordrhein des Deutschen Roten Kreuzes, die Firma Dräger als Wirtschaftspartner, die Stadt Krefeld als Modellregion und Praxispartner, das Internationale Zentrum für Ethik in den Wissenschaften (IZEW) der Universität Tübingen und die Katastrophenforschungsstelle der Freien Universität Berlin. Nach einer ersten Phase der Grundlagenforschung, in der wir erörterten, welche Konzepte und Planungen es in Bezug auf Evakuierung und Krankenhaus-Kritis bereits gibt, führten wir umfangreiche Experteninterviews durch, um unsere Datenbasis zu erweitern. Außerdem erstellten wir eine Reihe von Fallstudien zu unterschiedlichen Realfällen von Krankenhausevakuierungen in Deutschland– auch über das Modellszenario Hochwasser hinaus. Auf diesen Grundlagen erarbeiteten wir im Verbund erste eigene Konzepte, Leitlinien und Musterempfehlungen, die dann in einer großangelegten Stabsrahmenübung an der Bundesakademie für Bevölkerungsschutz und Zivile Verteidigung in Ahrweiler im Jahr 2022 mit Akteuren der Modellregion Krefeld und des dortigen Modellkrankenhauses durchgeführt wurde.
Welche Rolle spielen ethische Überlegungen bei der Evakuierungsplanung in Krankenhäusern?
Diesen Aspekt beleuchtete vor allem das Internationale Zentrum für Ethik in den Wissenschaften (IZEW) der Universität Tübingen. Hier wurden ethische Problemstellung in der Erarbeitung von Evakuierungsplänen in den Blick genommen, gerade wenn es darum geht, welche Standards (u.a. an Patientenautonomie und Privatheit) in Notsituationen angelegt werden sollten und wie wir diese verhandeln können. Viele logistische Entscheidungen, die zunächst rein technisch anmuten, umfassen auch Wertentscheidungen. Wer wann evakuiert wird, welche Priorisierungen im Ablauf vorgenommen werden, wer in welche Entscheidung eingebunden wird – alles das hat eine stark normative Dimension. Darüber hinaus ging das IZEW auch der Frage nach, weshalb die bestehenden Notfall- und Evakuierungspläne in Krankenhäusern oft nur einem Teil der Mitarbeiter*innen bekannt sind. Auch Übungen haben Seltenheitswert. Im Verlauf des Forschungsprojekts hat das IZEW dabei herausgearbeitet, dass die gesundheitliche Infrastruktur Krankenhaus in einem dreifachen – und teils konfligierenden – Rollenverständnis steht. So ist das Krankenhaus primär natürlich Ort der individualmedizinischen Versorgung. Daneben hat aber spätestens die Covid-19 Pandemie die große gesellschaftliche Sicherheitsrelevanz von Krankenhäusern gezeigt. Diese spiegelt sich auch im hohen Stellenwert des Krankenhauses in der gesundheitlichen Bevölkerungsschutzes in der Neuausrichtung des Bundesamts für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe wider. Schließlich sind Krankenhäuser aber auch Unternehmen, die wirtschaftlich im Rahmen ihrer finanziellen Möglichkeiten arbeiten müssen. Ein Verständnis dieser Rollen ist dabei Voraussetzung, um Maßnahmen zur Stärkung der Krankenhausinfrastruktur zu finden, die ethisch akzeptabel sind und auf dieser Grundlage auch von Patient*innen und Mitarbeiter*innen akzeptiert werden.
Inwieweit sollten Krankenhäuser in die allgemeine Notfall- und Katastrophenplanung einer Stadt oder Region integriert werden?
Hier sollte unbedingt eine Verzahnung stattfinden. Krankenhäuser sind kritische Infrastruktureinrichtungen. Bei allen Schadensszenarien spielen Krankenhäuser eine zentrale Rolle in der Verletztenversorgung, der Ausfall eines Krankenhauses kann für die von ihm abhängigen Erkrankten und Hilfsbedürftigen sowie generell für die medizinisch Versorgung in einer Region drastische Folgen haben. Entsprechend müssen Kommunen Krankenhäuser bei ihren Notfall- und Katastrophenplanungen fest im Blick halten, in die Planungen integrieren und bei konkreten Ereignissen die Lage in den Häusern ständig monitoren. Insbesondere Flächenlagen machen selten vor kommunalen Grenzen halt – jede Kommune sollte also auch grundsätzlich nach nebenan schauen, welche Gesundheitseinrichtungen, insbesondere jedoch Krankenhäuser, im Notfall zur Verfügung stehen oder ggf. Hilfe benötigen. Essentiell ist auch der frühzeitige Informationsaustausch zwischen Krankenhäusern und Krisenstäben. Krankenhäuser müssen Informationen über die Gesamtlage und mögliche Bedrohungen erhalten und ggf. auch gleich eine Interpretation über mögliche Konsequenzen für den eigenen Betrieb mitgeliefert bekommen. Nur so können die Häuser adäquat Vorbereitungen treffen und ihre eigene Situation einschätzen. Umgekehrt müssen Krankenhäuser auch aktiv die Krisenstäbe und Einsatzleitungen über ihre eigene Lage, ihre Kapazitäten und Bedarfe informieren. Am besten kann dies über Liaisonkräfte und Fachberater erfolgen, die vor Ort auf kurzem Wege fachliche Hilfestellungen geben können – so müssen kommunalen Verwaltungsstäben einerseits fachlich kompetent mit Fachwissen aus den Krankenhäusern versorgt werden und andererseits auch Krankenhäuser über die Fähigkeiten und Kapazitäten der kommunalen und überörtlichen Gefahrenabwehrbehörden- und Organisationen informiert werden, die ggf. zu Hilfe herangezogen werden können. Daneben müssen auch die Kommunikationskanäle offengehalten werden – es müssen für alle Akteure handhabbare, sichere, mit Redundanzen versehene Kommunikationsmittel vorgehalten werden. Wenn Kommunikationswege abreißen und der Informationsaustausch abbricht, ist eine gemeinschaftliche Lagebildentwicklung- und folglich auch Lagebewältigung nicht mehr möglich – im Zweifel zulasten der Patientinnen und Patienten.
Wie können digitale Technologien die Krisenresilienz von Krankenhäusern verbessern?
Digitalisierung ist ein Schwerpunktthema im Gesundheitswesen. Aus Sicht von Resilienzaspekten ist Digitalisierung durchaus zu begrüßen – schließlich erleichtert sie u.a. den Datenaustausch und erleichtert organisationale Prozesse im Krankenhaus. Jedoch gilt dies nur, solange bspw. noch Strom da ist. Die Digitalisierung erhöht – neben der Gefahr von Cyberattacken – in Krisenlagen auch die Vulnerabilität der Häuser. Ein Beispiel ist die Volldigitalisierung bei Patientendaten, z.B. Laborbefunden, Medikamentenlisten etc. Wenn hier das Krankenhaus – aus Umweltsicht durchaus begrüßenswerterweise – volldigitalisiert arbeitet, aber kein Backup in Form von Papierakten vorhanden ist und keine Vorwarnzeit zum rechtzeitigen Ausdrucken der Dokumente da ist, kann dies nach einem Stromausfall für ernsthafte Implikationen sorgen. So ist die Notstromversorgung des Krankenhauses oftmals nur auf bestimmte, lebenswichtige Anlagen ausgerichtet und versorgt nicht alle Server- und Gebäudebestandteile mit elektrischer Energie – ein Zugriff auf die Patientendaten wird dann unmöglich. Wenn dann auch noch eine – bei längeren Stromausfällen durchaus wahrscheinliche – Evakuierung von Patientinnen und Patienten anfällt, jedoch keine Daten mehr abrufbar sind, wird es schnell kritisch, schließlich müssen die Patientendaten ja mit dem Patienten „mitevakuiert“ werden.
Könnte das Konzept des RESIK-Projekts, das sich aktuell auf die Resilienz und Evakuierungsplanung in einem spezifischen medizinischen und sozialen Kontext konzentriert, so angepasst werden, dass es auf die gesamte Bundesrepublik Deutschland anwendbar ist?
Generalisierung war ein Schwerpunkt des Forschungsprojekts. Uns war es sehr wichtig, dass die Ergebnisse nicht nur anhand des Modellszenarios Hochwasser bzw. der Modellregion ausgerichtet sind und auch, dass diese nicht die einzige Bezugsquelle von Daten und Informationen darstellen. Wir haben also stets darauf geachtet, auch andere Szenarien – solange sie möglichst langandauernd und großräumig wirken – an unser Forschungsthema anzulegen und die Ergebnisse auch bei andere Gesundheitseinrichtungen zu überprüfen – z.B. bei stationären Pflegeeinrichtungen. Bei Letzteren können z.B. Notfälle ganz andere Auswirkungen haben als bei Krankenhäusern, da hier oftmals ein noch knapperer Personalschlüssel vorliegt, Notstrom oft nicht vorhanden und die Erstellung von Notfallplänen nicht vorgeschrieben ist. Dies kann im Vergleich zu Krankenhäusern Pflegeheime sehr viel schneller zu Notfallorten werden lassen und Evakuierungen provozieren, die sich wiederum aufgrund der Patientenprädispositionen (z.B. vermehrter Immobilität, Demenzerkrankungen etc.) schwieriger gestalten können. Basierend auf den Projektergebnissen wurden zudem Schulungsprogramme entwickelt, die nun den verschiedenen für eine Krankenhausevakuierung relevanten Akteuren, einschließlich natürlich den Krankenhäusern selbst, angeboten werden.
Experteninterview mit Dr. Elisabeth Maué
Über Dr. Elisabeth Maué:
Elisabeth Maué arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Fachgruppe für Empirische Bildungsforschung an der Universität Konstanz. Ihre Forschungsgebiete umfassen unter anderem die Untersuchung der Integration junger Geflüchteter in die Arbeitswelt und Gesellschaft sowie die Erforschung der Identifikation und beruflichen Identitätsentwicklung von Auszubildenden in Unternehmen.
Was genau ist das TASK-Programm und welche spezifischen Ziele verfolgt es im Hinblick auf die Integration von Auszubildenden mit Fluchthintergrund?
Das Projekt TASK (Tandems von Auszubildenden und Studierenden im Landkreis Konstanz; https://www.wiwi.uni-konstanz.de/task/) entstand im Herbst 2018 als Kooperation der Universität Konstanz, der Industrie- und Handelskammer Hochrhein-Bodensee, der Beschäftigungsgesellschaft Landkreis Konstanz gGmbH, dem Landratsamt Konstanz und der Handwerkskammer Konstanz. Es ist ein curricular angebundenes Lehrprojekt im Bereich Transfer und Service-Learning, das Auszubildenden mit Fluchthintergrund eine kostenlose fachliche Unterstützung durch Studierende der Wirtschaftspädagogik bietet und sie so bei ihrer Ausbildung begleitet, fördert und stärkt. Damit leistet TASK einen zivilgesellschaftlichen Beitrag zur beruflichen und gesellschaftlichen Integration der Auszubildenden. Aufgrund der besonderen Herausforderungen von geflüchteten Auszubildenden richtet sich TASK gezielt an diese Klientel. Es steht jedoch grundsätzlich allen Auszubildenden im Landkreis Konstanz offen, die Unterstützungsbedarf haben – unabhängig von einem Flucht- oder Migrationshintergrund und dem Fortschritt ihrer Ausbildung. So nehmen beispielsweise auch regelmäßig Geflüchtete teil, die sich im Rahmen des Bildungsgangs VABO-E auf die externe Hauptschulabschlussprüfung vorbereiten. Die Unterstützung der Auszubildenden orientiert sich an deren individuellem Bedarf und findet in festen Tandems im 1:1-Setting statt. Die Inhalte der regelmäßigen Treffen sind zum Beispiel die Nachbereitung von Unterrichtsstoff, die Vorbereitung auf eine Prüfung, die Erarbeitung von Lernstrategien, das Schließen von Wissenslücken, etwa in Mathematik, oder das Üben von Tätigkeiten des Berufs, etwa Telefonate mit Kund:innen oder Patient:innen. Die Studierenden des Seminars üben ihrerseits, Beziehungen zu geflüchteten Auszubildenden aufzubauen, Sachverhalte in verständlicher Sprache zu erklären und entwickeln ein Verständnis für Lernschwierigkeiten und die Gestaltung von Unterrichtsmaterialien. Sie erhalten zudem ein interkulturelles Training und Supervision und lernen wissenschaftliche Grundlagen zur beruflichen Bildung und Integration Geflüchteter sowie zu Deutsch als Zweitsprache und Mehrsprachigkeit kennen. Diese Erfahrungen und Kenntnisse stärken ihre pädagogischen und didaktischen Kompetenzen in interkulturellen Kontexten für die spätere Tätigkeit als Lehrpersonen an beruflichen Schulen. Studierende und Auszubildende erhalten Einblicke in die Lebenswelt ihrer Tandempartner:innen und tauschen sich über das Fachliche hinaus auch persönlich aus, sodass teilweise Freundschaften entstehen. Zusätzlich dienen gemeinsame Veranstaltungen aller Institutionen der Vernetzung der Beteiligten. Durch den Einbezug der Studierenden in aktuelle Forschungsprojekte liefern die Erfahrungen bei TASK wichtige Impulse für neue wissenschaftliche Fragestellungen und Erkenntnisse. Blickt man spezifischer auf den Beitrag von TASK zur Integration, so führt die Unterstützung beim Erwerb von Wissen und fachlichen Kenntnissen dazu, dass die geflüchteten Auszubildenden schulische Inhalte besser verstehen und erhöht dadurch die Wahrscheinlichkeit, dass sie die Prüfungen für den Schul- oder Ausbildungsabschluss erfolgreich meistern und somit ausgebildete Fachkräfte und aktive Mitglieder des Arbeitsmarkts werden (strukturelle Integration). Da fachliches Lernen und sprachliches Lernen eng verbunden sind und die Tandems viel miteinander sprechen, werden im Sinne der kulturellen Integration nicht nur der Spracherwerb, sondern durch die Auseinandersetzung mit Werten und Normen auch das gegenseitige Verständnis gefördert. Durch das 1:1-Setting haben die Geflüchteten eine Ansprechperson bei Fragen und es entstehen teilweise Freundschaften. Zudem erweitern sie durch die gemeinsamen Treffen aller Beteiligten ihr Netzwerk, sodass TASK auch zur Lösung von Problemen verschiedener Art und zur sozialen Integration beiträgt. Und schließlich lernen die geflüchteten Auszubildenden und die Studierenden auch viel voneinander, was sowohl die Persönlichkeitsentwicklung als auch die identifikative Integration stärkt.
Welche Rolle spielen Auszubildende aus dem Gesundheitswesen im TASK-Programm, und wie wird auf ihre spezifischen Bedürfnisse und Herausforderungen eingegangen?
Grundsätzlich nehmen geflüchtete Ausbildende aus allen Branchen und aus einer Vielzahl unterschiedlicher Ausbildungsberufe an TASK teil. Auszubildende aus dem Gesundheitswesen sind dabei von Anfang an integraler Bestandteil von TASK. Sie absolvieren beispielsweise die generalistische Pflegeausbildung oder werden zahnmedizinische Fachangestellte. Das 1:1-Setting ist prädestiniert, um auf ihre spezifischen Bedürfnisse und Herausforderungen eingehen zu können. So wird etwa beim Matching darauf geachtet, dass die Auszubildenden aus dem Gesundheitswesen mit Studierenden, die zeitlich flexibel sind, ein Tandem bilden. So treffen sich die Tandems beispielsweise nicht jede Woche an einem festen Termin, sondern vereinbaren die Treffen von Woche zu Woche flexibel so wie es die Schichtarbeit erlaubt. Da sich die Inhalte der Treffen an den individuellen Bedarfen der Auszubildenden ausrichten, kann im 1:1 zielgerichtet auf Schwierigkeiten in der Berufsschule eingegangen werden oder beispielsweise beim Erstellen eines Biographieberichts unterstützt werden. Als besonders bereichernd und hilfreich hat es sich erwiesen, wenn die Studierenden über eine medizinische Vorbildung verfügen, weil sie zum Beispiel selber als Pflegefachkraft oder Sanitäter:in gearbeitet haben. Bei Bedarf werden den Tandems Lernmaterialien zur Verfügung gestellt, die sich beispielsweise allgemein mit der deutschen Sprache befassen oder die spezifisch auf das Gesundheitswesen ausgerichtet sind, wie etwa das Buch „Deutsch B1/B2 in der Pflege“ von Böck und Rohrer oder der Flyer „Kleines Wörterbuch für Mitarbeiter/innen in der Pflege“ des Netzwerks Unternehmen integrieren Flüchtlinge und der Diakonie Deutschland.
Wie geht das TASK-Programm mit unterschiedlichen Bildungshintergründen von Auszubildenden im Gesundheitswesen um?
Dadurch, dass die geflüchteten Auszubildenden jeweils eine feste studentische Lernpartnerin bzw. einen festen studentischen Lernpartner haben, können diese zielgerichtet und fokussiert auf die individuellen Bedürfnisse der Auszubildenden eingehen. Wie oben beschrieben, werden auf unterschiedliche Arten und Wege die Themen der einzelnen Auszubildenden bearbeitet. Dies ist ein Vorteil im Vergleich zu Settings mit Kleingruppen oder Klassen, bei denen heterogenen Ausgangslagen und Fragen berücksichtigt werden müssen.
Inwiefern ist das TASK-Programm ein Musterbeispiel zur Milderung des Fachkräftemangels im Gesundheitswesen?
TASK hilft unbürokratisch und kostenlos dort weiter, wo Betriebe, berufliche Schulen sowie weitere Stakeholder systembedingt an Grenzen stoßen. Die Auszubildenden können während der gesamten Ausbildungsdauer an TASK teilnehmen, was auch etliche tun. Durch das besondere Setting des 1:1 wird zielgerichtet an den Schwierigkeiten der Auszubildenden angesetzt und insbesondere in der Abschlussphase intensiv in die Prüfungsvorbereitung investiert und auf das erfolgreiche Bestehen hingearbeitet. Da sich die Studierenden ebenfalls in einer Phase der Ausbildung und des Lernens mit entsprechenden Höhen, Tiefen und Zweifeln befinden und in einem ähnlichen Alter sind, bestehen Gemeinsamkeiten zwischen den Tandempartner:innen, die eine gute Arbeitsatmosphäre und eine besondere Beziehung ermöglichen, welche über das fachliche Lernen hinaus wirkt. Die verschiedenen beteiligten Institutionen, die TASK verantworten, verfügen über eine umfassende Expertise bezüglich aller Fragen rund um die Ausbildung, sodass die geflüchteten Auszubildenden umfassend unterstützt werden können.
Welche Rückmeldungen haben Sie von den Arbeitgebern im Gesundheitswesen über die Auszubildenden erhalten, die am TASK-Programm teilgenommen haben?
Es steht den Auszubildenden grundsätzlich frei, ob sie ihre Arbeitgeber:innen über ihre Teilnahme an TASK informieren oder nicht. Das TASK-Team steht nicht in Kontakt zu den Arbeitgeber:innen, es sei denn, die Betriebe melden ihre Auszubildenden bei TASK an und geben dabei eine Kontaktperson an oder sie kontaktieren von sich aus das TASK-Team. Dies war bislang bei den Arbeitgeber:innen der Auszubildenden im Gesundheitswesen nicht der Fall. Die TASK-Verantwortlichen sind in unterschiedlichen Netzwerken zu Aspekten der Integration Geflüchteter eingebunden und erfahren dort von Arbeitgeber:innen im Gesundheitswesen positive Signale zu TASK.
Experteninterview mit Ann Marini
Über Ann Marini:
Ann Marini ist eine Kommunikationsexpertin, spezialisiert auf den Bereich der Gesundheitspolitik und Gesundheitsversorgung. Aktuell leitet Ann Marini die Stabsstelle Öffentlichkeitsarbeit und Presse beim Gemeinsamen Bundesausschuss in Berlin, eine Position, die sie seit September 2020 innehat.
Vor ihrer aktuellen Rolle war Ann Marini beim GKV-Spitzenverband als stellvertretende Pressesprecherin tätig, eine Position, die sie seit Juni 2008 bekleidete. Zudem hat Ann Marini beim BKK Bundesverband gearbeitet, wo sie als Leiterin der Pressestelle und Pressesprecherin sowie als stellvertretende Pressesprecherin und Referentin für Presse und Öffentlichkeitsarbeit tätig war.
Welche Aufgaben hat der G-BA im deutschen Gesundheitssystem?
Etwa 74 Millionen Menschen sind in Deutschland gesetzlich krankenversichert. Mit der Aufgabe, den Leistungsanspruch für diese 90 Prozent der Bevölkerung in Deutschland auf Basis von möglichst guten wissenschaftlichen Erkenntnissen näher auszugestalten, hat der Gesetzgeber den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) beauftragt. Diese Konkretisierung der gesetzlichen Vorgaben erfolgt in der Regel in Form von Richtlinien. Sie sind sozusagen das „Haupt-Produkt“, das der G-BA verantwortet. Inhaltlich reicht das von A wie Arzneimittel, bei denen der G-BA den Zusatznutzen bei neuen Wirkstoffen prüft und bewertet, bis zu Z wie dem ärztlichen Zweitmeinungsverfahren bei planbaren Operationen, beispielsweise, wenn eine Knieprothese eingesetzt werden soll. Die Richtlinien gelten bundesweit – also für alle adressierten medizinischen Einrichtungen und für jede einzelne gesetzliche Krankenkasse. Diese immens wichtigen Aufgaben für die gesetzliche Krankenversicherung nimmt der G-BA als Gremium der gemeinsamen Selbstverwaltung im Gesundheitswesen wahr. Das heißt, hier arbeiten auf verschiedenen Ebenen Vertreterinnen und Vertreter von niedergelassenen Ärzten, Zahnärzten, Krankenhäusern, von Krankenkassen und Patientenorganisationen zusammen. Alle zwei Wochen trifft der G-BA im sogenannten Plenum, einer öffentlichen Sitzung, Beschlüsse, um seine Richtlinien weiterzuentwickeln oder neue zu etablieren. Die Vertretungen von Leistungserbringern und Krankenkassen sowie die drei unparteiischen Mitglieder des G-BA haben in diesen Plenumssitzungen ein Stimmrecht. Die Vertretung von Patientenorganisationen nicht, aber sie können selbst Anträge einbringen, um Beratungen anzustoßen, und sind an allen einen Beschluss vorbereitenden Beratungen beteiligt. Unterstützt und begleitet werden die Beratungs- und Entscheidungsprozesse des G-BA durch eine Geschäftsstelle – administrativ, vor allem aber auch methodisch und juristisch. Entsprechend vielfältig ist auch der Hintergrund der Kolleginnen und Kollegen, die bei uns in der Geschäftsstelle arbeiten. Alle Beschlüsse des G-BA sind auf der Website zu finden, ebenso kann man in der Mediathek seit dem Jahr 2020 die öffentlichen Plenumssitzungen abrufen.
Welche Kriterien werden bei der Entscheidung über die Erstattung von Leistungen durch die GKV berücksichtigt?
Der G-BA bereitet die Änderung oder Neufassung seiner Richtlinien oder Regelungen in strukturierten Beratungsverfahren vor. Die Regeln, die der G-BA dabei einzuhalten hat, können sehr unterschiedlich sein. Denn die gesetzlichen Aufgaben – beispielsweise aus den Bereichen Arzneimittel, Qualitätssicherung und Methodenbewertung – lassen sich nicht in einheitlichen Schritten bearbeiten. Gemeinsam ist dem Vorgehen aber, dass die Entscheidungen möglichst auf aussagestarken wissenschaftlichen Studien basieren. Der G-BA ist damit der evidenzbasierten Medizin verpflichtet. Unterstützt wird der G-BA bei seiner Arbeit regelhaft durch zwei wissenschaftliche Institute, die beispielsweise den aktuellen Stand der medizinischen Erkenntnisse zu einer neuen Behandlungsmethode recherchieren und auch bewerten.
Es gibt eine anhaltende Debatte über die Rolle von teuren Untersuchungen und Therapien im Gesundheitssystem. Wie geht der G-BA mit dieser Herausforderung um?
Der medizinische Fortschritt ist rasant – und sehr viele Patientinnen und Patienten profitieren von den Innovationen. Angesichts der oftmals aufgerufenen hohen Kosten und der solidarisch finanzierten gesetzlichen Krankenversicherung ist es aber auch wichtig hinzuschauen, ob beispielsweise ein neues hochpreisiges Arzneimittel wirklich den zusätzlichen medizinischen Nutzen, der versprochen wird. Genau das ist Aufgabe des G-BA. Entscheidend für die Frage, ob eine neue Leistung in den Leistungskatalog aufgenommen wird, ist also der zusätzliche medizinische Nutzen, der damit für die Versicherten verbunden ist. Der erwartbare Nutzen wird dabei möglichen Risiken oder Nebenwirkungen gegenübergestellt. Entscheidungen, wie teuer beispielsweise ein neu zugelassenes Arzneimittel sein darf oder wie hoch die ärztliche Vergütung für eine neue ambulante Leistung zu bemessen ist, werden hingegen nicht vom G-BA getroffen.
Welche alternative Medizinansätze und Therapien angemessen berücksichtigt werden, auch wenn sie nicht dem traditionellen medizinischen Mainstream entsprechen?
Rahmen für die Arbeit des G-BA bei der Bewertung von neuen Untersuchungs- und Behandlungsmethoden sind die gesetzlichen Vorgaben aus dem Sozialgesetzbuch V oder auch berufsrechtliche Vorschriften. So dürfen beispielsweise Leistungen von Heilpraktikern von gesetzlichen Krankenkassen nicht übernommen werden, sondern nur von Ärztinnen und Ärzten mit einer entsprechenden Zusatzausbildung. Ein Beispiel, was vor einiger Zeit relativ große Aufmerksamkeit ausgelöst hatte, war die Aufnahme der Akkupunktur bei bestimmten Therapiesituationen. Nach Prüfung der Studienlage hatte der G-BA bereits im Jahr 2007 für Akkupunktur bei chronischen Rückenschmerzen der Lendenwirbelsäule und des Kniegelenks ausreichend positive Belege gesehen und diese Leistung aus der alternativen Medizin in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung integriert. Wenn Versicherte Wert auf alternative Behandlungsansätze legen, beispielsweise die Homöopathie, müssen sie die sogenannten Satzungsleistungen von Krankenkassen vergleichen. Diese Satzungsleisten beschließen die Kassen individuell – sie können also sehr verschieden sein. Der G-BA ist bei Satzungsleistungen nicht eingebunden.
Welche methodischen Anforderungen gelten für die wissenschaftliche Bewertung von Nutzen, Notwendigkeit und Wirtschaftlichkeit von Leistungen und Maßnahmen durch den G-BA?
Die von Ihnen genannten Vorgaben stammen aus dem Sozialgesetzbuch. Sie sind sozusagen die Basis für alle Regelungen im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung und damit natürlich auch für die Arbeit des G-BA. Zusätzlich kommt beim G-BA sein evidenzbasierter Ansatz hinzu. Er schaut jeweils, ob es aussagekräftige Studien gibt, um den patientenrelevanten Vorteil beispielsweise bei neuen Untersuchungs- und Behandlungsmethoden bewerten zu können. Für eine neue Untersuchungs- oder Behandlungsmethode, deren Nutzen noch nicht hinreichend belegt ist, die jedoch das Potenzial einer erforderlichen Behandlungsalternative erkennen lässt, kann bzw. muss der G-BA eine Studie durchführen. Ziel dabei ist, Informationen zu erhalten, die eine Bewertung des Nutzens der Methode auf einem ausreichend sicheren Erkenntnisniveau erlaubt, um eine Entscheidung zu treffen – wir sprechen hier also über eine Studie, mit der die fragliche Methode „erprobt“ wird. Derzeit gibt es sechs Studien im Auftrag des G-BA und vier sind in Vorbereitung. So läuft derzeit z. B. die Studie zu Liposuktion beim Lipödem oder auch eine Studie, die klären soll, ob bei einer Mandelentzündung eine operative Teilentfernung der Mandeln der bisherigen Standardtherapie, nämlich der vollständigen operativen Entfernung, nicht unterlegen ist.
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