Experteninterview mit Lisa Waldenburger
Lisa Waldenburger ist seit 2019 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Medien, Wissen und Kommunikation (IMWK) der Universität Augsburg tätig und verfügt über eine ausgeprägte Expertise in den Bereichen Mediensoziologie und sozialer Wandel. Ihre akademische Laufbahn begann sie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena mit einem Studium der Soziologie und Humangeographie.
Ihre Doktorarbeit, die sie seit 2018 an der Friedrich-Schiller-Universität in der Allgemeinen und Theoretischen Soziologie verfasst, vertieft ihr Verständnis für theoretische soziologische Konzepte.
Vor ihrer Zeit in Augsburg war Waldenburger an der Universität Zürich beschäftigt, wo sie im Rahmen des SNF-Projekts „Intimisierung des Öffentlichen“ forschte, das sich mit den Veränderungen der Grenzen zwischen Privatem und Öffentlichem in den Medien auseinandersetzt.
Was versteht man unter "digitalem Stress"?
Allgemein kann Stress als ein Ungleichgewicht zwischen den äußeren Anforderungen und den vorhandenen Möglichkeiten einer Person, diese zu bewältigen, verstanden werden. Von „digitalem Stress“ sprechen wir in der Folge, wenn diese Anforderungen direkt oder indirekt durch technische Geräte oder Anwendungen ausgelöst werden.
So kann die überfordernde Bedienungsanleitung des neuen TV-Geräts, wie auch die ständige Erreichbarkeit per Smartphone zu digitalem Stress führen. Dabei können die digitalen Geräte und Anwendungen direkt oder indirekt als Vermittler für den Stress verantwortlich sein, beispielsweise wenn das W-Lan nicht funktioniert und wir dadurch nicht am Online-Meeting teilnehmen können (direkt), aber auch wenn wir kontinuierlich durch neue Mails vom arbeiten abgelenkt werden (indirekt).
Auch ist Stress situativ abhängig, so sind zehn neue Nachrichten während der Autofahrt ein Stressauslöser, im Wartezimmer beim Arzt aber eine willkommene Beschäftigung.
Wie beeinflusst die ständige Erreichbarkeit durch Smartphones unser Stresslevel?
Das Smartphone kann zum einen die Rolle als Helfer im Umgang mit digitalem Stress übernehmen, löst aber zeitgleich auch häufig digitalen Stress aus. Die digitalen Kommunikationsmedien haben dafür gesorgt, dass Kommunikationsschranken sinken und man das Gefühl hat, ständig erreichbar sein zu müssen, direkt zu antworten und beispielsweise auch in der Freizeit auf berufliche Anfragen zu reagieren.
Diese ständige Erreichbarkeit wird dabei von vielen als einer der Hauptstressor genannt. In der Folge resultiert daraus nicht nur ein gestiegenes (digitales) Stresslevel, sondern auch weitere Stressoren, wie die Angst etwas zu verpassen (FOMO) und das Gefühl, zu wenig Zeit für andere Dinge zu haben. Wichtig ist mit Blick auf die ständige Erreichbarkeit sowohl individuell, wie auch gesellschaftlich zu hinterfragen, wer die ständige Erreichbarkeit voraussetzt und ob diese notwendig beziehungsweise angemessen ist. Nur weil uns das Smartphone und dessen Anwendungen theoretisch die Möglichkeit gibt, jeden jederzeit zu erreichen, müssen wir diese nicht ausschöpfen.
Mit Blick auf das individuelle Stresslevel wird schnell deutlich, dass Phasen des „Nichterreichbarseins“ den digitalen Stress deutlich senken. Anstatt also die Arbeitsmails am Samstagmorgen zu checken und sich dann bis zum Arbeitsbeginn am Montag zu stressen, wäre das Wochenende meist deutlich entspannt, wenn wir dies erst am Montag tun.
Welche Rolle spielen Apps bei der Verstärkung von digitalem Stress?
Apps und Anwendungen auf dem Smartphone verstärken den digitalen Stress in vielfältiger Hinsicht. Zum einen wird das Gefühl der ständigen Erreichbarkeit durch die niederschwellige Kommunikation über Instant-Messenger-Anwendungen (wie WhatsApp, Signal, Threema, etc.) verstärkt.
Dazu kommen die Features dieser Anwendungen, wie die blauen Häkchen, die Anzeige „zuletzt online“ oder auch das Anzeigen neuer Nachrichten auf dem Sperrbildschirm, die der Kommunikation mehr Dringlichkeit und Bedeutung zuschreiben als nötig. So entsteht beispielsweise bei vielen Nutzern der Stress, schnell auf gelesene Nachrichten zu reagieren, da der Sender nachvollziehen kann, dass die Nachricht bereits gelesen wurde und nun mutmaßlich auf eine Antwort wartet.
Zum anderen sorgen auch Apps, die zur Unterhaltung dienen, wie Instagram, TikTok und YouTube ebenfalls mit ihrer Funktionalität für mehr digitalen Stress. Hier wurden beispielsweise Slotmachine-Features, Endless-Feeds und Autoplay-Funktionen entwickelt, um die Nutzenden länger in der App zu halten. Das Resultat ist dann häufig digitaler Stress, welcher aus dem Gefühl der Zeitverschwendung im Umgang mit diesen Apps resultiert.
Wie effektiv sind Tracking-Apps bei der Bewusstseinsbildung über das eigene Smartphone-Nutzungsverhalten?
Tracking Apps, aber auch die Digital Wellbeing (Android) oder Screen Time (iOS)-Funktionen der Smartphones selbst, bieten den Nutzer:innen die Möglichkeit, sich ihre Nutzungsgewohnheiten grafisch aufbereitet anzeigen zu lassen. Dadurch wird das Bewusstsein für die eigenen Nutzungsroutinen gestärkt und Reflexionsprozesse ausgelöst. Selbstverständlich sind wir uns auch ohne diese Anzeige bewusst, welche Apps wir nutzen, aber dass aus „nur mal kurz für fünf Minuten“ schnell eine Stunde Nutzungszeit pro Tag wird, überrascht dann doch die meisten und löst Überlegungen dahingehend aus, wie man seine Zeit sinnvoll nutzen möchte.
In unserer Forschung haben wir die Teilnehmer:innen für einen Tag lang jegliche Mediennutzung in eine Tabelle eintragen lassen und die Ergebnisse aufbereitet im Anschluss mit ihnen besprochen. Hier zeigte sich deutlich, dass viele von ihren eigenen Nutzungsroutinen überrascht waren, beispielsweise darüber, wie viele Medien sie nutzen, wie oft nicht-mediales Handeln durch diese unterbrochen wird und die Gesamtmenge an Zeit, die sie damit verbringen.
Viele haben daraufhin ihr Verhalten geändert und beispielsweise medienfreie Zeiten in ihren Alltag integriert. Tracking Apps auf dem Smartphone bieten diese Aufzeichnung automatisiert an, die Nutzungsgewohnheiten werden anschließend visuell aufbereitet und können so schnell erfasst werden. Anders als die vorinstallierten Anzeigen auf dem Smartphone sind die Tracking Apps zumeist detaillierter, verweisen regelmäßig auf ihre Ergebnisse und ermöglichen auch ein Vergleich mit anderen Personen. Im Praxistest unserer Studie schnitten die Tracking Apps positiv ab, berichteten die Nutzer:innen von einem erhöhten Bewusstsein der eigenen Nutzungsgewohnheiten, auch wenn das Layout der App selbst und die Funktionalität als Kritikpunkte angesprochen wurden.
Zusammenfassend lässt sich aber festhalten, dass es für die Reflexion des eigenen Nutzungsverhaltens weniger wichtig ist, wie diese umgesetzt wird, also ob mit einer Tracking App, der Wellbeing-Funktion auf dem Smartphone, einen Tagebuch oder im Gespräch mit anderen, sondern das sie überhaupt stattfindet und so ungesunde Nutzungsroutinen erkannt und verändert werden können.
Welche Ansätze verfolgen Blocking-Apps?
Blocking Apps bieten den Nutzer:innen die Möglichkeit, bestimmte Apps sowie Benachrichtigungen für einen gewissen Zeitraum zu blockieren, um so das Ablenkungspotenzial dieser zu verringern. Auch ermöglichen sie es, Zeitbeschränkungen für spezifische Apps einzustellen und nach Ablauf den Zugriff zu sperren.
Ziel ist es die impulsiven, zumeist unbewussten Nutzungsroutinen zu unterbrechen und den digitalen Stress, der durch die Ablenkung beziehungsweise die investierte Zeit entsteht, zu verringern. Sie setzen damit beim problemzentrierten Coping (=Bewältigung) mit digitalem Stress an, da sie externe Auslöser reduzieren beziehungsweise Handlungen im Vorfeld unterbinden, die stressauslösend sein können.
Wichtig ist hierbei darauf hinzuweisen, dass die Apps aktiv in die Nutzungsgewohnheiten eingreifen und dafür umfangreiche Zugriffsrechte auf das Smartphone benötigen. Im Praxistest zeigte sich zudem, dass die Nutzer:innen sich durch die App häufig fremdbestimmt fühlen und dem impliziten Kontrollverlust eher kritisch gegenüberstehen. So beschreibt eine Studienteilnehmerin, dass sie bei Nutzung der App Angst hatte, im Notfall wichtige Funktionen ihres Smartphones nicht mehr verwenden zu können.
Hier sehen wir Anpassungsbedarf bei den Apps, genauer über die Funktionen und deren Folgen zu informieren. Gleichwohl erzielen die Blocking Apps positive Erfolge, wenn es um impulsive Handlungen, wie das unbewusste Öffnen von Apps zur Unterhaltung in kurzen Phasen des Leerlaufs, geht. Durch die Nachfrage, ob man die App wirklich öffnen will oder die Aufforderung zur Eingabe eines Passwortes, wird die zunächst impulsive Handlung bewusst und reflektiert.
Wie können Reward-Apps Nutzer dazu motivieren, ihr Handy weniger zu verwenden?
Reward-Apps belohnen die Nichtnutzung des Smartphones, in dem sie auf Elemente der Gamifizierung zurückgreifen. Je nach App wachsen in der Zeit der Nicht-Nutzung beispielsweise (digitale) Bäume oder Fische und je länger der Verzicht andauert, desto größer werden diese.
Wer also ein buntes Aquarium mit vielen Fischen auf seinem Handy haben möchte, muss dieses weniger nutzen. Auch gibt es Reward-Apps, die mit realen Belohnungen wie Gutscheinen für Kinos oder Restaurants versuchen, die Nutzung des Smartphones zu reduzieren (bisher nur in der UK und Norwegen verfügbar). Reward-Apps eignen sich in der Folge besonders für spielaffine Personen und für spezifische Phasen des konzentrierten Arbeiten oder Lernens.
Da die Apps zumeist einen „ganz oder gar nicht“-Ansatz verfolgen, das heißt, das Smartphone in der Zeit der Anwendung generell nicht genutzt werden kann, laden sie nicht zur Reflexion des eigenen Nutzungsverhaltens ein. Auch ist der Anreiz zum Verzicht relativ gering, wird die Kommunikation mit einem Freund höher bewertet als der potenziell wachsende Fisch, wird die Nicht-Nutzung in der Folge schnell unterbrochen.
Wie hat die Pandemie-Situation die Rolle von digitalem Stress beeinflusst?
Die Covid-19-Pandemie hat nicht nur in Deutschland für einen deutlichen Digitalisierungsschub gesorgt. Besonders in den Phasen der Kontaktbeschränkungen und des Lockdowns fand eine Übertragung von soziale, berufliche wie private, Interaktionen ins Digitale statt. Hierfür wurde besonders im beruflichen Kontext neue Infrastrukturen und Settings geschaffen, die auch nach der Pandemie weiterhin aufrechterhalten werden.
Neben den Vorteilen in Bezug auf Flexibilität, Kosteneffizienz und Optimierung, hat dies sowohl kurzfristig, wie auch langfristig zu einem erhöhten digitalen Stresslevel geführt. So musste der Umgang mit neuen Anwendungen und Geräten kurzfristig und unter Druck erlernt werden, was besonders ältere Arbeitnehmer:innen gestresst hat. Das Arbeiten im Homeoffice hat die räumliche Trennung zwischen Beruf und Freizeit aufgehoben und das Gefühl ständiger Erreichbarkeit verstärkt.
Und auch das Ausweichen auf digitale Formen der Kommunikation mit Freunden und Familien war für viele ein Stressor, wenngleich es die einzige Möglichkeit des Kontakthaltens in pandemischen Zeiten war. Ein letzter Punkt, auf den ich eingehen möchte, ist die gestiegene Bedeutung des Smartphones als alltägliche Begleiter als Folge der Pandemie. So haben beispielsweise die Corona Warn App, die zwingende Registrierung per App beim Besuch einer Veranstaltung (LUCA-App) oder auch die ausschließlich per QR-Code abrufbaren Speisekarten in Restaurants, neben all den Vorteilen mit Blick auf das Infektionsgeschehen, dafür gesorgt, dass jeder jederzeit sein Smartphone dabeihaben muss. Daran haben sich viele Nutzer bereits so sehr gewöhnt, dass ein kurzer Spaziergang ohne das Smartphone kaum denkbar ist und digitaler Stress entsteht, wenn man es ausversehen zu Hause vergessen hat und jetzt Angst hat, etwas zu verpassen.
Viele dieser Veränderungen hin zum Digitalen wurden nach der Pandemie nicht wieder aufgehoben, sondern blieben bestehen und sorgen weiterhin für steigende digitale Stresslevel. Um diese langfristig zu senken, ist es notwendig einen gesunden Umgang mit digitalen Technologien und Medien zu lernen, in dem man zum einen selbst sein Medienverhalten reflektiert und mit seinem Umfeld Regeln und Erwartungen festlegt, wie und wann man kommunizieren möchte, und zum anderen auch gesellschaftlich für eine Stärkung der subjektiven Medienkompetenz sorgt und Digitalisierungsprozesse mit Blick auf Notwendigkeit und Gesundheitsprävention hin reflektiert.
Weiterführende Links
Weiterführende Literatur:
Waldenburger, Lisa; Wimmer, Jeffrey (2022): Digitale Medien, Gesundheit und Medienkompetenz im Alltag: Das Phänomen Digitaler Stress. In: Alexandra Manzei-Gorsky, Cornelius Schubert und Julia von Hayek (Hg.): Digitalisierung und Gesundheit: Nomos, S. 303–326. doi.org/10.5771/9783748922933-303
Waldenburger, L.; Wimmer, J.; Stein, S. (2023): Ein gesunder Umgang mit Smartphones? Eine zweistufige Analyse von Apps gegen digitalen Stress. IN: merz - Zeitschrift für Medienpädagogik. 67 (1), 68-74.